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Großbritannien: Im Insel-Labor

Nicht Amerika, nicht Europa. Nicht klein und nicht groß. Nicht vorn, aber auch nicht am Ende. Was also ist Großbritannien?

Wenn große Staatsmänner abtreten, dann müssen große Worte her. „This is the greatest country on earth“, sprach also Tony Blair bei der Ankündigung seines Rücktritts als britischer Premier vor einem Jahr. „Dies ist das großartigste Land der Welt“ – wer in der Heimat großer Komödianten von Chaucer und Shakespeare zu Monty Python und Mr. Bean ungebremst einen solchen Satz aufs Volk loslässt, muss mit Spott rechnen. Prompt listeten Blogger und Kommentatoren auf, was Blairs Britain alles andere als großartig erscheinen ließ: Jugendalkoholismus, Teenagerschwangerschaften, Gangkriminalität etc.

John Harris, Autor des Buchs „The Last Party“ über Britpop und Blair, belegte Blairs Superlativ im „Guardian“ mit dem Adjektiv „bollocksome“, das mit dem deutschen Wort „blödsinnig“ nur unzureichend übersetzt ist. „Es ist Teil unserer nationalen Verfasstheit anzuerkennen, dass dies nicht das großartigste Land der Welt ist“, schrieb Harris und grenzte die vorstädtische Prägung des britischen Pop von der episch-mythischen Tradition amerikanischer Rockmusik ab. „Britisch zu sein, heißt, enttäuscht zu sein, sogar fatalistisch.“ Und das sei okay so. Schließlich erwachse daraus großartiger Pop.

Nicht Amerika, aber auch nicht richtig Europa. Nicht klein und nicht groß. Nicht ganz vorn, aber auch nicht am Ende. Was also ist Großbritannien heute? Ein Land, das der Welt den Kapitalismus und die moderne Demokratie geschenkt hat, genauso wie den Fußball und jene eigene, von Amerika fortentwickelte Pop-Tradition. Ein Land, in dem oft auf verblüffende Art Themen verhandelt werden, die uns alle angehen: Einwanderung und Integration, wirtschaftlicher Strukturwandel und eine Politik der Mitte, abseits der Links- Rechts-Schablonen. Großbritannien ist ein politisches und kulturelles Labor, in dem vieles entwickelt wird, in dem aber auch das eine oder andere misslingt.

Zurzeit geht vieles daneben. Die Wirtschaft ist in der Krise, das Vertrauen der Wähler und Verbraucher erschüttert. Im Land der Hausbesitzer und solcher, die es unbedingt werden wollen, macht sich wegen steigender Preise, schwerer zu bekommender Kredite und fallender Immobilienwerte Zukunftsangst breit. Die elitäre Erziehung in Privatschulen wie Eton und Universitäten wie Oxford und Cambridge steht im Kontrast zu einem ansonsten als schlecht empfundenen Bildungssystem. „In Großbritannien haben wir die letzten Jahrzehnte damit verbracht, unser Bildungssystem zu zerstören, so dass mehr und mehr Kinder die Schule mit unzulänglichen Kenntnissen ihrer eigenen Sprache verlassen“, sagte die Schriftstellerin A.L. Kennedy in Deutschland bei einer Dankesrede für einen Preis. „Die jungen Leute, die von unserem staatlichen Bildungssystem abhängig sind, werden grundlegend geschädigt durch dieses System.“

Ähnliches gilt für das Gesundheitssystem: Wer Geld hat, wird privat hervorragend versorgt. Wer auf den einst als sozialistische Errungenschaft gefeierten National Health Service angewiesen ist, wartet lange auf den Arzt.

Die Probleme einer orientierungslosen britischen Jugend haben sich seit Blairs Rücktritt noch stärker ins öffentliche Bewusstsein geschoben. Gewalt und Drogen sind in den Metropolen London, Glasgow oder Manchester ein drängendes Problem. Doch auch die Mainstream-Kids in den kleineren Städten fallen unangenehm auf. An Freitag- und Samstagabenden werden Innenstädte auf der Insel zu No-go-Areas für Nüchterne, voll jugendlicher Schnapsleichen auf vollgekotzten Bürgersteigen.

Obwohl viele dieser Fehlentwicklungen nicht erst mit dem Dienstantritt Tony Blairs und seines Schatzkanzlers Gordon Brown vor elf Jahren begannen, fallen sie auf diese Regierung zurück. „New Labour“ ist offenkundig in seine Endphase eingetreten. Bei der letzten Nachwahl vergangene Woche im südenglischen Henley kam die Partei auf Platz fünf – noch hinter ansonsten bedeutungslosen Gruppierungen wie den Grünen und der rechtsextremistischen British National Party. Das Ergebnis wurde am Freitag bekannt gegeben, dem ersten Jahrestag des Regierungsantritts von Brown. Die neueste Meinungsumfrage ergab daraufhin landesweit für Labour mehr als 20 Prozentpunkte Rückstand auf die Konservativen.

Es waren weitere Tiefpunkte für Blairs Nachfolger. Brown wirkt nur noch wie der Konkursverwalter eines gescheiterten Unternehmens. Aus Sicht der Labour-Partei und ihrer dezimierten Anhängerschaft mag dies ein katastrophales Scheitern sein. Doch so wie die konservative Premierministerin Margaret Thatcher mit ihrer marktwirtschaftlichen Revolution erst Blair und seine Reformen bei Labour ermöglichte, so ermöglichte Blair David Cameron.

Der junge Konservativen-Chef erfindet seine Partei nach Blairs Vorbild neu. Nachdem Blair seine Leute Marktwirtschaft, Wettbewerb und das Denken in Projekten gelehrt hatte, modernisierte Cameron die Tories mit Themen wie Umweltschutz und Toleranz gegenüber Einwanderern. So trafen sich die beiden großen Parteien in der Mitte. Man mag beklagen, dass sie dadurch an Profil verloren haben und viele frühere Stammwähler nicht mehr wissen, für welche übergreifende Idee ihre Partei noch steht. Doch wäre ein Rückfall ins starre Rechts-Links-Schema, zu einer Politik der Lager, Milieus und Ideologien die bessere Alternative? Durch das Zurückweichen der Ideologien können sich die Wähler an für sie wichtigen Sachthemen orientieren, wie eben Bildung, Gesundheit oder der Kampf gegen Drogen und Kriminalität.

Die großen ideologischen Schlachten zwischen Labour und Tories sind geschlagen. Die Wechselwähler übernehmen das Kommando. Deshalb steht mit dem nächsten Regierungswechsel nicht unbedingt wieder eine lange Oppositionszeit für die geschlagene Partei an, die ohnehin nur zu Sattheit und Selbstgefälligkeit der regierenden Partei und ihres Personals führen würde. Ein schon profilierter, aber noch nicht verbrauchter Brown-Nachfolger wie etwa der jetzige Außenminister David Miliband könnte Labour mit einer guten Mannschaft und der gezielten Besetzung wichtiger Sachthemen schnell wieder in Stellung bringen. Diese politisch dynamischere Situation haben Parteireformen auf beiden Seiten bewirkt, die nicht auf halber Strecke stecken blieben wie bei den großen Volksparteien in Deutschland.

Es ist der von Politikern wie Thatcher, Blair und Cameron verkörperte Wille zur Erneuerung, der es einen um Großbritannien nicht bange werden lässt. Das passt zur britischen Philosophie, die Dinge in die Hand zu nehmen und sich selbst um seine Belange zu kümmern: sein Haus, seinen Garten, seine Familie, seinen Beruf. Aus dem Fatalismus den großen Abläufen gegenüber und der Skepsis gegenüber dem Staat erwachsen Bürgersinn und Engagement: der erklärte Wille, sich von eben jenem Staat nicht gängeln lassen zu wollen, ihn aber im Gegenzug auch nicht für das eigene Glück verantwortlich zu machen. Engagement hat hier Tradition – vor allem im Kleinen. Noch jeder Park im Vorort hat seinen Freundeskreis, der sich kümmert.

Doch auch im Großen ist diese Insel attraktiv – trotz aller Probleme. Die britische Bevölkerung wächst, im Gegensatz zur Situation in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Das liegt vor allem an den vielen Einwanderern. Nach der Osterweiterung der Europäischen Union öffnete das Vereinigte Königreich kompromisslos seine Grenzen für die neuen EU-Bürger. Vor allem Polen ergriffen die Chance und strömten herbei. Der polnische Klempner wurde weniger zur Bedrohung für Arbeitsplätze stilisiert als zum Sinnbild guter Arbeit. Was natürlich nicht heißt, dass es auf der Insel keine Integrationsprobleme oder Ressentiments bei der alteingesessenen Bevölkerung gibt.

Problematischer ist jedenfalls die Beziehung zur muslimischen Einwanderergemeinde. Die Selbstmordattentate vom 7. Juli 2005 sowie weitere vereitelte Anschläge haben das Potenzial des „homegrown terrorism“, die Radikalisierung junger muslimischer Briten, schrecklich vor Augen geführt. Gleichzeitig aber sind nirgendwo sonst in Europa die Muslime so aktiv gegen Terrorismus wie in Großbritannien. Vor allem junge Muslime, einige von ihnen Aussteiger aus radikalen Organisationen, tun sich zusammen, bekennen sich zu Großbritannien als ihrer Heimat und wollen eine westliche Tradition des Islam wieder beleben.

Über die Einwanderer hinaus ziehen die englische Sprache und die britische Kultur Studenten, Austauschschüler, Au-pairs und Touristen in Massen nach Großbritannien. Schon hoffen britische Tourismusmanager und Sprachschuldirektoren auf Millionen von zu Wohlstand gekommenen Chinesen und Indern, die künftig das Land bereisen sowie sich und ihre Kinder bilden und fortbilden. Internationale Konzerne haben keine Probleme, ihre Mitarbeiter zum Umzug in die Kulturmetropole London zu bewegen – müssen aber deren Gehälter aufstocken, damit sie in der teuren britischen Hauptstadt über die Runden kommen.

Ein großer Teil der Attraktivität Großbritanniens liegt weniger bei Shakespeare als bei Beckham und britischen Boygroups. Während David Beckham selbst nach Amerika rübergemacht hat, der englische Fußball mal wieder schwächelt und in diesen Tagen sogar die EM auslassen musste, erneuert sich der britische Pop immer wieder. Auf der einen Seite versorgen Stars wie Amy Winehouse und Pete Doherty die Welt mit dem Klatsch, den ihr selbstmörderischer Lebensstil hergibt, und bedienen mit ihrer Musik eher einen Retrogeschmack. Auf der anderen aber entwickeln Bands wie Foals das immer wieder totgeglaubte britische Gitarrenpop-Genre weiter. Im Falle der Foals mit afrikanischen Einflüssen, ohne dass es bemüht multikulti daherkommt.

Ohnehin schlägt das Empire zurück. Die einstigen Subjekte Ihrer britischen Majestät kaufen in großem Stil bei der früheren Kolonialmacht ein. Es begann mit dem Ägypter Mohamed al-Fayed, der sich eine britische Ikone sicherte, das Londoner Luxuskaufhaus Harrods. Zudem leistete er sich mit dem FC Fulham einen traditionsreichen Londoner Fußballklub. Zyniker interpretierten auch die tödliche Liebschaft seines Sohnes Dodi mit Prinzessin Diana als Teil der größenwahnsinnigen Fayedschen Übernahmepläne für Großbritannien. Der Inder Lakshmi Mittal führt derweil von London aus sein weltweites Stahl-Imperium und hat mit den Queens Park Rangers ebenfalls einen Londoner Fußballklub gekauft. Und der indische Konzern Tata übernahm unlängst die Automarke Jaguar, Inbegriff britischen Lebensstils.

So stolz die Briten auf ihre Traditionen sind, so pragmatisch gehen sie mit solchen Verkäufen um. Eine protektionistische Industriepolitik französischer Prägung würde dem weltgewandten Händlervolk nicht in den Sinn kommen. Eher schon die Prüfung und Erforschung eigener Unzulänglichkeiten. Dass die Privatisierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte nicht nur Gutes hervorbrachte, ist den Briten klar. Erfolgreiche, kreative Unternehmer wie der Staubsaugerhersteller James Dyson beklagen die Zerschlagung der staatlichen Infrastruktur und den Niedergang der produzierenden Industrie zugunsten einer Service-Wirtschaft. „Das Land Brunels bringt keine Ingenieure mehr hervor“, sagt Dyson und erinnert damit an einen ganz Großen: Der Brücken- und Tunnelkonstrukteur Isambard Kingdom Brunel wurde in einer TV-Umfrage zu den 100 größten Briten Zweiter hinter Winston Churchill. Dyson ist davon überzeugt, dass nur mit Finanz- und Kommunikationsdienstleistungen auf Dauer kein verlässlicher Wohlstand erarbeitet werden könne. Er selbst plant, eine Ingenieursschule zu gründen. Tory-Chef Cameron will in diesem Jahr zu einem „manufacturing summit“, einem Industriegipfel, laden, um die Produktion neu zu beleben.

Es ist eine historische Ironie, dass dies in Großbritannien notwendig wurde, dem Land der Industriellen Revolution. Dem Land großer Erfinder wie James Watt, George Stephenson und Isambard Kingdom Brunel, das sich lange vor Tony Blair mit vollem Recht als „greatest country on earth“ bezeichnen durfte. Das gilt heute nicht mehr. Großartig aber ist Great Britain allemal noch.

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