zum Hauptinhalt
Ein Radfahrer fährt an der Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße vorbei.
© dpa

Ost und West: Hüben und drüben. Und wo bin ich jetzt?

In Leerstellen und Halbsätzen ist die alte Grenze noch erlebbar. Eine Spurensuche nach den Narben der Teilung von Ost und West im Alltag von Stadt, Sprache und Innenleben.

Neulich in Prenzlauer Berg: Eine Gruppe angetüterter Mädels schlenkert Absatzschuh an Absatzschuh über den holprigen Bürgersteig, sie lallen Lieder der Sorte Komische Oper. Vor einem Restaurant der Sorte biologisch korrekt erhalten sie spontanen Applaus der Gäste; eine ältere Frau klatscht besonders laut, bevor sie ausruft: „So was habe ich bei uns in West-Berlin noch nie erlebt.“ An den Nebentischen wird es umgehend still: West-Berlin, gibt’s das noch? Und Ost-Berlin, soll das hier sein, im Katalogbezirk Prenzlauer Berg mit seinem ungeschriebenen Lebensmotto „Gutmenschen aller Bundesländer, vereinigt euch“? Die Mädels, sie sind nicht mal so alt wie das vereinte Deutschland, ziehen schnell weiter. Was kümmert sie eine Teilung, die man nur noch in Halbsätzen erahnen kann? Dabei liegt sie genau unter ihren Absätzen: die deutsche Geschichte, die keine gemeinsame sein durfte.

Das kaputtgetretene Kopfsteinpflaster im Katalogbezirk, die in sich verschobenen Gehwegplatten, in denen die Kinderwagen der Latte-Macchiato-Mütter stecken bleiben, sie sind eines der letzten Zeugnisse eines sanierten Stadtgebietes, das die DDR-Führung baulich aufgegeben hatte. Ein Gebiet, das nun mit seinen hohen Mieten jene Künstler und Lebenskünstler vertreibt, die den Bezirk einst mit Mut und Lebensmut vor dem intellektuellen Verfall gerettet haben. Unsichtbar oder zumindest gut versteckt sind die neuen Grenzen des Geldes, die sich durch Berlin und Deutschland ziehen. Die alte Grenze aber, die vor 50 Jahren das Land, viele Familien und die Adern seiner wichtigsten Stadt brutal zerteilte, sie ist noch immer erlebbar: in Spurenelementen, Leerstellen, Halbsätzen. Die Narben der Mauer finden sich nicht nur an der ehemaligen Todeszone. Sondern auch im Inneren vieler Menschen.

André Herzberg sitzt in seiner Wohnung mit Hinterhofblick, aus deren Wänden ausgebeulte Steckdosen made in GDR ragen, und drückt die Play-Taste auf seinem Computer. Der Sänger der einst subversiven Band Pankow („Das selbe Land zu lange gesehen / die selbe Sprache zu lange gehört / zu lange gewartet / zu lange gehofft / zu lange die alten Männer verehrt“) ist etwas angegraut, auf dem Schoß des 54-Jährigen hockt seine Tochter, und auf dem Computer läuft sein noch unveröffentlichtes Lied mit dem programmatischen Titel „Ein neuer Tag in Pankow“. Doch kaum sind die Gitarrenklänge verhallt, schleicht sich aus seinem Mund die halblaute Frage: „Ob das auch mal Leute aus dem alten Westen hören wollen?“

Hinter dieser Frage steckt ein auf vielen Zungen liegendes schales Gefühl, ein leises Unbehagen vieler Ostdeutscher, auch ehemals oppositioneller. Der als Wahnsinn empfundene Mauerfall brachte bei allem Freiheitsgewinn auch Niederlagen: Verluste an Nischen, Verluste an Träumen, den Verlust des Wortes Wahnsinn. Und die Frage: Interessieren die sich so für uns wie wir für die? Die und wir – diese Denke ist auf beiden Seiten noch vorhanden, auch wenn jetzt wieder alle offiziellen Gedenkveranstaltungen und wohlfeilen Fernsehdokumentationen suggerieren wollen, dass es nur eine gemeinsame Seite und Sache gibt, ja, immer gab. Aber hinterm Horizont der Erinnerungen geht’s weiter – in einem Heute, in dem das verschieden erlebte Gestern eingraviert ist. Auch wenn die Mauer nur noch am Humboldthain vor sich hin gammelt, am Griebnitzsee still der Opfer gedenkt oder als Fotomotiv auf dem Potsdamer Platz rumliegt wie eine abgekippte Ladung Gestern. Auch wenn die Supermarktkette „Kaisers“ in ihren Filialen in Berlins früheren Ostbezirken (nicht wenige sind ehemalige DDR-Kaufhallen) ostdeutsche Waren verschämt, aber betont als „Produkte aus der Region“ ausweist. Auch wenn der Tagesspiegel seine Tagestipp-Kolumnen abgeschafft hat unter anderem mit der Begründung, es gebe keine Ost- und West-Berliner mehr. Auch wenn man in Prenzlauer Berg plötzlich laut schweigt, weil jemand das Wort Westen sagt.

Der Umbau Ost ist im Westen angekommen

Der Westen ist der neue Osten. So hat es der Hamburger Sänger Bernd Begemann bei einem Konzert in den abgeschrammelten Berliner „Wühlmäusen“ formuliert, tief im alten Herzen der Stadt, die sich woanders erneuert, eine andere hippe Mitte findet. Viele Sehnsuchtsorte wie der Ku’damm haben sich in Normalität verwandelt. Im alten Westen Deutschlands ist der Umbau Ost angekommen – am sichtbarsten im Ruhrgebiet mit fast schon ostdeutschen Arbeitslosenzahlen. In Berlin spürbar wurde dieser Prozess für viele mit der Abwrackung des Fernbahnhofs Zoo oder der Schließung des Flughafens Tempelhof. Hier kann man nun auf freiem Felde ins Offene gehen. So wird im Osten des Landes schon lange improvisiert.

Nach jeder Umwälzung und Revolution bleiben Brachen. Gerade das wilde Überwuchern der Leerstellen macht Berlin so attraktiv. Für Zuzügler und Nachzügler, für Studenten aus aller Welt, für Mode, Kunst und Musik. Neue Netzwerke spinnen sich zusammen, nicht nur online, und überlagern alte Narben, verdecken sie zuweilen. Aber Narben verschwinden nicht.

Das Plattenlabel von Pankow ist auf Ostbands spezialisiert. Mit dem neuen Album im Herbst könnte es also wieder Einladungen zu Ostalgie-Touren regnen, die André Herzberg nicht annehmen will. Der gesamtdeutsche Musikmarkt ist noch geteilt. Wie der gesamtdeutsche Pressemarkt (in Berlin immerhin gibt es Aufweichungen). Wie der gesamtdeutsche Sport („Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen? Eisern Union!“). Wie die gesamtdeutsche Sprache (nicht Plaste oder Plastik ist entscheidend unterscheidend, nicht Dreiraum- oder Dreizimmerwohnung, sondern die Tatsache, dass ein Fakt jetzt eine Tatsache ist, ein Kollektiv nun ein Team zu sein hat und dass mit Frankfurt immer Frankfurt am Main gemeint ist und nie Frankfurt an der Oder).

Hüben und drüben. Und wo dazwischen bin ich jetzt?

Die und wir. Das sind nicht bloß überholte Kategorien einer Generation, die ihre Unterschiedlichkeit einst beim deutsch-deutschen Badeurlaub am Balaton zu verdecken versucht hat. Erst vor wenigen Wochen hat sich in Berlins neuer Mitte das Forum „Dritte Generation Ostdeutschland“ konstituiert. Mehr als 100 Leute zwischen 25 und 35 waren dabei, Frauen und Männer, die in der neuen Bundesrepublik, die ihre Eltern noch BRD nennen, Karriere machen. Nun hocken sie als Banker und Software-Entwickler an Ossi-Stammtischen in Frankfurt (nicht an der Oder natürlich) und fragen sich, ob sie ihre Heimat verraten haben. Auf dem Forum konnte man das Flirren der verwühlten Gefühle beinahe mit Händen greifen, spielerisch ernsthaft wurde ergründet, welche Emotionen der Mauerfall und die schnelle Einheit ausgelöst haben. Neben Freude, Neugier und Aufbruch waren das auch negative: Angst – um die Eltern, die arbeitslos wurden. Verlustschmerz – von Heimat, die in der Schule stets mit dem Vaterland DDR verbunden war. Wut – auf Gleichaltrige, die sich nicht für die alten DDR-Comics und Kinderbücher interessierten, sondern nur von den Heldenfiguren schwärmen, deren Abenteuer nicht durch einen Umbruch unterbrochen wurden. Im Freiheitstaumel etwas verloren zu haben, dieser schale Geschmack bleibt selbst jungen Wendegewinnern auf der Zunge kleben. Mit ihren Eltern, Onkels und Tanten sprechen sie darüber nicht, aus falscher Rücksicht und aus Angst vor der Frage: Hast du auch mitgemacht bei der Diktatur? Mit anderen ist das schon gar kein Thema.

Innere Grenzen, äußere Grenzen

Das Schweigen ist eingeübt, es war im halben Land täglich trainierter Alltag. So entstand eine doppelte Sprache, die viele Ostdeutsche noch im Munde führen. Mit der sie manchmal, für westdeutsch Sozialisierte schwer verständlich, nur Zwischentöne treffen. Weit in der bundesdeutschen Provinz kompensiert mancher Vorzeige- und Nachlebe-Ossi sein kollektives Alleinsein mit übereifrigem Konsumismus. In der Hoffnung, dass so niemand seine Verletzungen sieht.

Innere Grenzen gehen mit äußeren einher, zwischen Stadt und Land, Wachstum und Schrumpfung, Neu und Alt. Und mittendrin Spuren der Erinnerung. Michael Hacker, 31, Projektmanager aus Berlin, drückt seine Suche so aus: „Wenn ich erzähle, dass ich aus Hoyerswerda komme, ähneln sich die Reaktionen, egal, ob mein Gegenüber aus dem Osten oder dem Westen kommt: eine Mischung aus betretenem Lächeln und der Erwartung, bestätigt zu bekommen, dass alles stimmt, was man über die Stadt hört und liest – die Rechtsradikalen, die Plattenbauten, die Schrumpfung der Stadt.“ In Leipzig entdeckte Hacker mal eine Postkarte, die seinem Lebensgefühl entsprach: „Die Vergangenheit ist ein Ort, an dem du nicht warst.“

Leerstellen sind nicht allein zwischen Ost und West gerissen worden. Das ist ein beharrliches Missverständnis der Vereinigung. Sie klaffen auch zwischen Ost und Ost, „zwischen Herkunft und Ankunft“, wie die Journalistin Ulrike Nimz in der „Freien Presse“ treffend geschrieben hat, einer ehemaligen SED-Zeitung übrigens, die seltsamerweise schon zu DDR-Zeiten diesen Namen trug und nach wie vor in Chemnitz erscheint, einer Stadt übrigens, die sich früher Karl-Marx-Stadt zu nennen hatte.

(P.S. Dass ich „übrigens“ schreibe, zeigt vielleicht auch eine kleine Verbitterung – die ich innerlich meine nötig zu haben?)

Zur Ehrlichkeit gerade in den ostdeutschen Erinnerungsgemeinschaften, in denen die bunte Vergangenheit zur Nische ausgebaut wird, muss gehören: Die Narben, die der Umbruch hinterlassen hat, wurden gerissen von der 1961 zementierten Teilung. Erst der Mauerbau führte zu Lücken in den Schulatlanten des Ostens und auf der Landkarte des Interesses vieler Westdeutscher und West-Berliner. Auch das war der Mauerbau: die Einbetonierung West-Berlins. Wer heute mit der S-Bahn nordwärts zum Badesee rausfährt, sieht die Enge am Fenster vorbeifliegen. Erst das Märkische Viertel, das an der früheren, von dieser Seite bunt bemalten Grenze mit neuer Hochhausarchitektur protzte, dann Einfamilienhäuser, die sich zusammendrängen, dichter und dichter aneinandergepresst, bis plötzlich das weite Feld beginnt. Das Umland, das es für West-Berliner nicht gab. Ende Gelände, von einem Meter auf den anderen.

Manche Wunden sind ganz offenkundig. Auf Autobahnen sieht man Reste alter Grenzanlagen, spürt flüsternd den Asphalt des Aufbau Ost, der manche Strecke im früheren Westen alt aussehen lässt. Und auf dem Weg nach Berlin deuten Schilder zu den beiden Mitten der Stadt: Berlin-Zentrum (Alexanderplatz), Berlin-Zentrum (Zoo). Die Grenze lässt sich auch per Fahrrad erkunden, auf alten Kolonnenwegen, deren Laternen früher ein lebensbedrohliches Licht auf jeden Schatten warfen. Oft geht es vorbei an sich gegenseitig abweisenden Häuserwänden. Gut zu sehen ist das an der Bernauer Straße, an der die Geldgrenze zwischen Neu-Mitte und Wedding mit der alten zusammenfällt. Oder an der Bernburger Straße in Rand-Kreuzberg: auf der einen Seite Sozialbauten, auf der anderen Hochpreisappartements, die sich zu einer Grünfläche öffnen, die einmal Ost-Berliner Exklave war. An mancher Fassade sieht man einen verblassenden weißen Strich oder einen unverputzten Streifen. Dort stieß die Mauer an. An der Spree kann man den Grenzverlauf noch in seinem wilden Zickzack verfolgen, hier sind zahlreiche Grundstücke weiterhin unbebaut und überwuchert. Offenheit kann auch das sein:

Leere.

Noch eine offene Wunde im Herzen der Stadt, des Landes: der Anhalter Bahnhof. Im 19. Jahrhundert drittgrößter Bahnhof der Welt. Berlins erste S-Bahnstation. Jetzt eine Ruine am ehemaligen Mauerstreifen. Im Zweiten Weltkrieg zerstört. Später umfahren von der DDR-Reichsbahn wie ganz West-Berlin (oder zumindest unterirdisch durchquert mit zahllosen Geisterstationen). Nicht übrigens: Vom Anhalter Bahnhof ließen die Nazis Tausende Juden ins KZ Theresienstadt abtransportieren. Viele Narben der Mauer haben oft noch eine unheilvolle Vorgeschichte. Das Gestern war auch mal ein Heute. Und morgen entsteht an diesem Ort wieder der Tagesspiegel, die erste freie Zeitung der nach dem Krieg zerbombten Stadt.

Auf dem Musikalbum „Ein neuer Tag in Pankow“ wird André Herzberg einen Song singen, der von den Wunden erzählt, die vernarben, nicht verheilen: „Ich bin für dich da (wenn du mich suchst)“. In diesem Lied heißt es: „Ich kann mich nicht selber neu erfinden / Kein anderer sein als der, der ich bin / Die Zeit und die Zeiten haben mich verändert / Wie Dich auch, mein Freund.“

Robert Ide ist Sportchef des Tagesspiegels. Er forschte und publizierte zur DDR ("Geteilte Träume - Meine Eltern, die Wende und ich", btb).

Zur Startseite