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Meinung: Glanz und Elend der Intellektuellen

Der Triumph des Neoliberalismus belegt: Die Linke hat versagt Von Alexander Gauland

Die Franzosen hatten Voltaire, Montesquieu, Diderot und d’Alembert. Und längst bevor die Bastille fiel und der König sein Haupt unter die Guillotine legte, gab es das republikanische Frankreich im Denken seiner Intellektuellen. Alle Phasen, in denen sich die Revolution schließlich vollzog, waren in den Köpfen der Gemäßigten wie der Entschiedenen vorgebildet. So groß war die Furcht der endlich siegreichen Reaktion im Jahre 1815, dass sie nicht die Zustände, sondern deren Spiegelung in den Köpfen der Kritiker als die größte Gefahr für die Heilige Allianz ansah. Demagogenverfolgung nannte man diese Furcht.

Und auch nach dem Ende dieses Fürstenbundes war die neue Revolution schon vorgeformt im Kommunistischen Manifest und im Buch über die Lage der arbeitenden Klasse in England, in den Schriften der Anarchisten wie der Kathedersozialisten. Ohne Bernstein, Kautsky, Freud und Jung hätte auch Lenins berühmte Frage „Was tun?“ keine Antwort gefunden, und die russische Revolution wäre ohne Trotzki zwar weniger blutig, aber eben ohne revolutionäre Theorie vor sich gegangen.

Auch die Bewegung der 68er hatte ihre teils ungewollten teils gewollten Vor- und Mitdenker. Adorno und Horkheimer, Habermas, Reich, Mitscherlich und Marcuse waren oft wirksamer in der Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft als die schießwütigen Terroristen. Die westliche Welt war damals nicht halb so revolutionär wie die Theorien der in Regenbogenfarben gefassten Meisterdenker. Nun kann man über den Nutzen ihrer Schriften unterschiedlicher Meinung sein. Aber allein die Tatsache, dass eine nichtrevolutionäre Situation eine revolutionäre Literatur von beträchtlichem Umfang hervorgebracht hat, belegt die Bedeutung des Denkens von 1768 bis 1968.

Wie anders heute! Dass die Bundesrepublik eine ihrer schwersten Krisen durchmacht, ist nicht nur die Erfindung von Hundt, Sinn und Miegel. Auch weniger katastrophisch veranlagte Beobachter räumen ein, dass die Schwierigkeiten von damals harmlos waren gegenüber der Globalisierungs- wie der Demographiekrise von heute. Doch merkwürdig: Während Vietnamkrieg, Ölkrise und der schon 20 Jahre zuvor besiegte Nationalsozialismus intellektuelle Höchstleistungen produzierten, bleibt das Feld, auf dem fünf Millionen Arbeitslose gedeihen, analytisch unfruchtbar. Keine revolutionäre Theorie macht ihnen Mut, keine gesellschaftspolitische Alternative beunruhigt den neoliberalen Mainstream. Fast widerstandslos hat sich eine Sichtweise durchgesetzt, die allein im Sparen und Lohnsenken das Heil des deformierten Arbeitsmarktes sieht.

Was geschehen muss, mag im Detail zwischen FDP, CDU und SPD schwanken, die Richtung ist nirgends umstritten, allenfalls die Stärke der Zumutungen. Zwar legen die Gewerkschaften Einspruch ein, doch fast niemand hört zu. Während in den 70er Jahren fast jede noch so krude Theorie auf Millionen Leser, Verstärker und viele gläubige Adepten zählen konnte, ist die gesellschaftliche Krise heute ein reines Problem der Angebotstheorie. Es ist, als ob Marx und das revolutionäre Pathos so wenig existierten wie Lord Keynes und die sozialstaatliche Verheißung. Wirtschaftstheorie ist gefragt, aber nur eine, die den Deutschen mehr Arbeit und weniger Lohn verheißt. Es scheint, als ob der ideologiewidrige Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus die Analyse- und Utopiekraft einer ganzen Generation erschöpft hat. Und das ist wohl auch der tiefere Grund der intellektuellen Misere.

Wer sich in der Einschätzung des Ganges der Geschichte so verschätzt hat wie die antikapitalistische Linke der alten Bundesrepublik, hat seinen Anspruch auf die Deutungshoheit des Geschehens verwirkt. Wie die Konservativen sich nie von ihrer Nähe zum Nationalsozialismus in der Weimarer Republik erholt haben, so hat das Irren der falschen Revolutionäre dem Neoliberalismus einen billigen Sieg beschert. Und so, wie im Machbarkeitswahn des Wiederaufbaus nach dem Kriege sich das Gleichgewicht von rechts nach links verschob, hat die Republik nun eine neoliberale Schlagseite. Doch dies ist nicht Schuld der vielen Nachbeter einer unanfechtbaren Wahrheit, sondern späte Folge des Versagens der Linken.

Die intellektuelle Debatte in der Bundesrepublik ist auch deshalb so armselig, weil Schuldeingeständnis und Aufarbeitung – anders als in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts – unterblieben sind. Die späte Anerkennung der Tatsache, dass die Zerstörung Dresdens ein Verbrechen und die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten eine humanitäre Katastrophe waren, mag ein Anfang sein, er reicht aber offenbar nicht aus, der vermeintlichen Unabänderlichkeit des Marktgeschehens ein glaubwürdiges Halt von links entgegenzuschleudern.

Der Autor war Staatssekretär und ist Publizist.

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