Erinnerungen an die Gegenwart: Fußball in den Zeiten der Traurigkeit
Ich habe mit der deutschen Autoren-Nationalmannschaft in der Favela Maré im Norden Rio de Janeiros Fußball gespielt.
An den kleinen holprigen Platz, unter dem früher Sumpfgebiet war, grenzen unmittelbar die Hütten, man kann vom Spielfeld in die Schlafzimmer schauen und umgekehrt. Kinder umlagern das Feld, Mulattinnen versuchen während des Spiels mit uns ins Gespräch zu kommen, in Tornähe riecht es nach Marihuana. Alle fünf Minuten fährt ein Jeep mit bewaffnetem Militär vorbei.
„Für die Copa!“, wie mir ein Gegenspieler, einer der jungen Favelados, erklärt.
Insgesamt sind 2700 Militärpolizisten für die WM in Maré eingerückt, der Favela-Komplex liegt zwischen dem Internationalen Flughafen und dem Zentrum der Stadt und hat deshalb eine logistische Bedeutung für die WM.
140 000 Menschen leben hier, die Opfer der Kämpfe zwischen den drei großen Drogenbanden und dem Militär sind meist jung, wie vor einigen Monaten, als hier 13 Kinder von Polizisten erschossen wurden.
Es ist ein seltsames Fußballspiel, wenn sich das Militär fünf Meter neben dem Tor postiert und sich die Kinder daraufhin hinter den Hütten verschanzen. Die meisten der fußballspielenden Deutschen scheinen aber so ehrgeizig bei der Sache zu sein, dass sie es gar nicht merken.
„Wenn erst einmal Fußball gespielt wird, werden die Menschen vergessen, wo gespielt wird“, erklärt Ignácio de Loyola Brandão, einer der großen Erneuerer der brasilianischen Literatur, der mit seinem Großstadtroman „Zero“ berühmt wurde.
Brandão treffe ich in São Paulo, im Viertel Vila Madalenal. Nicht eine einzige brasilianische Fahne ist zu sehen. In Deutschland ist vermutlich schon jeder Balkon und jeder Autospiegel Schwarz-Rot-Gold, aber hier, im Land der größten Fußballliebe: nichts. „Bei allen Weltmeisterschaften zuvor haben wir uns wie Kinder darauf gefreut, aber nun?“, sagt Brandão. „Brasilien ist grau. Unsere Regierung, die schlechteste seit 40 Jahren, die Fifa, die Korruption, all das hat uns traurig gemacht.“
Bei einem Testspiel Brasiliens saß ich auf der Tribüne im Stadion. Das Spiel war nicht besonders gut, und sobald die Brasilianer auch nur einen Rückpass spielten, wurde gepfiffen. „Das ist das Schreckliche“, erklärt Brandão. „Eigentlich fiebern wir Brasilianer mit unserem Team, aber diesmal muss es gewinnen, es muss uns wenigstens Stolz bringen, weil uns die Weltmeisterschaft sonst nur Traurigkeit bringt. Wenn Brasilien ausscheidet, werden die Menschen wieder auf die Straße gehen.“
Die WM hat für die meisten Brasilianer nur Nachteile: Die Preise sind ins Absurde gestiegen, Menschen wurden umgesiedelt, der Sozialstaat ist durch Stadionbauten der öffentlichen Hand (2,7 Milliarden Euro!) auf Jahrzehnte ausgeblutet. Für all das muss also Brasilien nun wenigstens den Titel holen.
Als ich aus dem Stadion Morumbi zurückwollte, streikten die U-Bahnen, die Busse. Sie streiken noch immer in São Paulo und die Regierung feuert mittlerweile alle Streikenden.
Wieder in Berlin, sehe ich einen Bericht über die Sicherheitsvorkehrungen für WM-Touristen. Für ein paar Sekunden fahren wieder Militärjeeps am kleinen Fußballplatz in der Favela Maré vorbei. Ich sehe wieder Kinder mit großen Augen, wie sie in die Kamera schauen.
Vielleicht war ja die Selbstvergessenheit, mit der wir Deutschen in der Favela spielten und unbedingt gewinnen wollten, das ehrlichste, schönste Spiel der WM. Am Ende haben wir verdient verloren, die Favela hat gesiegt. Und wir ließen alles zurück, was wir konnten: Trikots, Schuhe, Stutzen, Strümpfe. Immerhin. Die Fifa hinterlässt nichts, nur Wut.
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