Streit um EU-Kommissionspräsident: Frechheit verliert - und Jean-Claude Juncker
Martin Schulz hat bei der Debatte um den EU-Kommissionspräsidenten großen Schaden angerichtet. Der muss jetzt begrenzt werden - gemeinsam: Der Rat und das Parlament müssen eine Person finden, der alle zustimmen können.
Plagen Martin Schulz wenigstens Gewissensbisse, weil allmählich klar wird, was er da angerichtet hat mit seiner Idee, als „Spitzenkandidat“ in die Europawahl zu ziehen? Er selbst hat noch Glück gehabt, seine Parteienfamilie, die Sozialisten, wurden nur Zweiter. Nun wird also nicht er durch hässliche Medien-Kolportagen über Persönlichkeitsdefizite demontiert, sondern Jean-Claude Juncker. Das werden die Konservativen, auch die Pro-Europäer unter ihnen, nicht so rasch vergessen.
Selbst unter denen, die Schulz anfangs Beifall spendeten, kehrt Nachdenklichkeit ein. Der kühne Vorstoß, den entscheidenden Einfluss bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten für das Parlament zu reklamieren, obwohl die europäischen Verträge das nicht vorsehen, bringt die EU nicht voran, wie erhofft, sondern wendet sich zu Europas Schaden.
Martin Schulz und seine Wahlkampflüge
Der seit Jahren schwelende Machtkampf zwischen dem Rat der nationalen Regierungschefs und dem Parlament war im Lissabonner Vertrag mit einer Kompromissformel zugedeckt worden, die zur Zusammenarbeit zwang. Der Rat nominiert den Kommissionspräsidenten, hat dabei aber das Ergebnis der Europawahl zu berücksichtigen; das Parlament muss den Kandidaten bestätigen. Keiner kann ohne den anderen. Diese Abhängigkeit hat Schulz mit der Wahlkampflüge, der siegreiche „Spitzenkandidat“ werde automatisch Kommissionspräsident, aufgekündigt. Die konservative Parlamentsgruppe EVP folgte, wenn auch zögerlich.
Nun haben beide den Schaden. Es war absehbar, dass der Rat seine Entmachtung nicht widerstandslos hinnehmen würde. Dieser Kampf, den Schulz der EU mutwillig aufgezwungen hat, kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Die schwere Wirtschaftskrise ist nicht bewältigt, der Ausgang des russischen Kriegs gegen den EU-Anwärter Ukraine ungewiss. Dieses Bild wird die Zuneigung der Bürger zum Europaparlament wohl kaum fördern.
Deutschland ist in Europafragen wie so oft eine Insel
In Deutschland waren die Sympathien klar verteilt: Die Idee, dem wählenden Bürger mehr basisdemokratischen Einfluss auf die als „bürgerfern“ eingestufte Kommission zu geben, galt als gut; wer sich entgegenstellte oder auch nur auf Zeit spielt, wie die Kanzlerin, geriet unter Verdacht, sich an „Wahlbetrug“ zu beteiligen. Schließlich war die Direktwahl des Kommissionspräsidenten versprochen worden. Doch wie so oft in Europafragen ist Deutschland eine Insel. Hier funktionierte die Idee des Spitzenkandidaten leidlich, weil Schulz ein Deutscher und Juncker nicht völlig unbekannt war. In Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen, Portugal, Spanien spielten die „Spitzenkandidaten“ keine Rolle. Dort wäre es „Wahlbetrug“, wenn jetzt automatisch ein Kommissionspräsident gekürt würde, über den die Bürger gar nicht wissentlich abgestimmt haben. Wer das Grundprinzip der Demokratie – die Mehrheit entscheidet – anruft, sollte bedenken: Die Automatismus-Befürworter sind in Europa eine Minderheit.
Schadensbegrenzung ist das Gebot der Stunde. Es geht nur gemeinsam. Der Rat und das Parlament müssen eine Person finden, der alle zustimmen können. Die Deutschen lernen, dass Wahlversprechen – und Wahlbetrug – in jedem Land Europas andere waren.