Wahlen zum Europaparlament: Europas Chefs und die Rücksicht aufs Parlament
Früher hieß es: Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa. Heute indes werden Spitzenkandidaten sogar per Online-Voting bestimmt. Andere wiederum vergessen: Der Vertrag von Lissabon ist wie viele Verträge – deutbar.
Als im Juni 1979 die Mitglieder des Europäischen Parlamentes zum ersten Mal direkt gewählt wurden, galt ein Mandat in Straßburg nicht unbedingt als erstrebenswert für ehrgeizige junge Politiker. Prompt kursierte der höhnische Spruch: Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa.
35 Jahre später hat das Europäische Parlament zwar immer noch nicht die vollen Rechte wie die nationalen Volksvertretungen. Vor allem das sogenannte Königsrecht, die Budgethoheit, gehört nicht dazu. Weder können die Abgeordneten ihren Etat selbstständig erhöhen, noch dürften sie die Einführung einer Europasteuer beschließen, um sich aus der Abhängigkeit der Staats- und Regierungschefs zu befreien. Aber der Vertrag von Lissabon hat insgesamt die Position des Hohen Hauses gestärkt. Das erklärt auch, warum diesmal im Blick auf den Wahltag, den 25. Mai, alle Parteien auf europäischer Ebene einen Spitzenkandidaten küren wollen, ungeachtet der Tatsache, dass die Wahllisten nach wie vor auf nationaler Ebene aufgestellt werden.
Dieses gleichzeitige Neben- und Gegeneinander treibt merkwürdige Blüten, und an welcher Partei könnte man das wieder einmal besser beobachten als bei den Grünen? Die hatten sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, ihre Spitzenbewerber in einem europaweiten Online-Voting zu bestimmen. Unter dem Gesichtspunkt der Wahlbeteiligung war das Experiment ein Flop. Grüne Parteien haben in der Europäischen Union 200 000 Mitglieder, beteiligt an der Abstimmung haben sich gerade einmal 22 656. Die entschieden sich mehrheitlich für die 32-jährige Ska Keller, eine EU-Abgeordnete aus Brandenburg, und den 60-jährigen französischen Globalisierungsgegner und Attac-Mitbegründer José Bové.
Für Rebecca Harms, die Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament, war das eine unerwartete Niederlage. Sie wird sich auf jeden Fall für die Spitzenposition der deutschen, der nationalen Grünen Liste bewerben. Da sie viel bekannter ist als Ska Keller, könnte sie am 25. Mai bei den deutschen Wählern deutlich besser als die junge und sehr quirlige Brandenburgerin abschneiden.
Dass alle Parteien plötzlich meinen, einen europäischen Spitzenkandidaten bestimmen zu müssen, hängt vor allem mit einer durch den Vertrag von Lissabon eingeführten Neuerung zusammen. Der künftige Präsident der EU-Kommission, also der Nachfolger oder die Nachfolgerin von José Manuel Barroso, könnte sehr wohl ein Mitglied der stärksten Fraktion im Europäischen Parlament sein.
Vorgeschlagen wird dieser, dann vom Parlament zu wählende Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten nach wie vor von den Staats- und Regierungschefs der EU-Länder. Die sind aber nach dem Lissabonvertrag erstmals gehalten, dabei das Ergebnis der Europawahl zu berücksichtigen. Der derzeitige Präsident des Europäischen Parlamentes, der Deutsche Martin Schulz, der auch Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten ist, interpretiert dieses „berücksichtigen“ als Verpflichtung, sich nach dem Wahlergebnis zu richten, also den Frontmann oder die Frontfrau der stärksten Fraktion auch zu nominieren.
Das sehen die Regierungschefs völlig anders. Für sie heißt „berücksichtigen“, dass sie das Wahlergebnis bedenken müssen – was sie dann daraus machen, ist ihre Sache. Wenn es so läuft, könnte das den konservativen Jean-Claude Juncker treffen. Der möchte Spitzenkandidat der Europäischen Volksparteien werden, die bislang die stärkste Fraktion bilden. Das aber wollen von Merkel bis Cameron Europas konservative Machthaber verhindern. Und wenn das schon nicht klappt, werden sie ihn kaum als Kommissionspräsidenten vorschlagen. Juncker ist ihnen zu eigenwillig. Und dass er auch noch charismatisch ist, stört jene am meisten, die kein Charisma haben. Sie würden sich lieber für einen eher farblosen Europapolitiker entscheiden.
Diese Angst vor großen Namen an der Spitze Europas hat eine frustrierende Tradition. Ihr verdankte die weithin unbekannte Lady Ashton die Nominierung als „Hohe Vertreterin der Außen- und Sicherheitspolitik“. Sie benötigte eine ganze Wahlperiode, um sich jenes internationale Standing zu erarbeiten, das sie eigentlich von Anfang an gebraucht hätte. Ob Europas Stimme in der Welt gehört wird, hängt eben nicht nur von einer soliden Finanz- und Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft ab, sondern auch von der Überzeugungskraft des Spitzenpersonals. Und Juncker, zum Beispiel, wäre kein Opa für Europa. Er wird 60, und Enkel hat er (noch) keine.