Meinung: Entdeckung der Ungleichzeitigkeit
Asiens Flut stärkt in Europa die Sehnsucht nach einer globalen Solidargemeinschaft. Doch uns trennen Welten.
W as für eine Bühne menschlicher Größe. Dem unfassbaren Ausmaß von Tod und Zerstörung setzt die Weltgemeinschaft eine Hilfsbereitschaft entgegen, wie sie die Erde noch nicht erlebt hat. Die wohl höchste Opferzahl in der Geschichte der Bundesrepublik durch ein singuläres Ereignis beantworten die Deutschen mit Spendenrekorden. Auch zwei Wochen nach dem Einbruch der Wassermassen in die schöne Urlaubswelt erlahmen Mitgefühl und Interesse der Menschen, die tausende Kilometer entfernt leben, nicht. Sie hoffen auf Nachrichten und Bilder von weiteren Überlebenswundern wie das des Indonesiers, der neun Tage auf Krüppelholz auf dem offenen Meer trieb.
Wir alle, die wir bis in die jüngste Zeit erfahren mussten, was der Mensch dem Menschen antun kann – in Kriegen und anderen menschengemachten Katastrophen –, sind begierig nach Gegenbeispielen: was der Mensch dem Menschen helfen kann.
Was wird dieser Naturkatastrophe jetzt nicht alles an Hoffnung aufgebürdet! So wie das Erdbeben in der Türkei 1999 die Wende zur griechisch-türkischen Versöhnung markierte, weil das Leid der Nachbarn die Herzen öffnete, sollen nun der Kampf gegen die Folgen des Seebebens verfeindete Bürgerkriegsparteien auf Sri Lanka und in Indonesien Frieden finden lassen, die Rivalitäten zwischen Regionalmächten überbrücken, Christen und Muslime einander schätzen lehren und UN und USA an einem Strang ziehen lassen.
Solche Erwartungen sind nicht nur übermenschlich, sie wirken im Angesicht dieses Naturereignisses auch übernatürlich. Können sie sich ausgerechnet in einer Region erfüllen, die so sehr leidet unter Wohlstands- und Entwicklungsgefälle, politischen, sozialen, ethnischen und religiösen Spannungen sowie zahlreichen Bürgerkriegen? Die Not und die Hindernisse, dass die Hilfe auch ankommt, sind auch Folge einer schlechten Politik. Dass ein Frühwarnsystem fehlte, dass vorhandene Kenntnisse über den drohenden Tsunami nicht weitergegeben wurden, war nicht Schuld des Westens. Es waren Entscheidungen der Mächtigen dort.
Fast jeder Tag bringt zwar neue Beweise, dass die Hoffnungen keine naive Träumerei bleiben müssen: Auf Sri Lanka arbeiten die Zentralregierung und die tamilischen Rebellen zunächst zusammen. Die USA unterstellen ihre Hilfsprogramme den Vereinten Nationen.
Aber es gibt auch viele Gegenbelege: In der indonesischen Provinz Aceh, der wohl am schlimmsten getroffenen Region, ruht der Konflikt zwischen Regierung und sezessionistischen Islamisten nicht. Die regionale Großmacht Indien und die isolationistische Militärjunta von Burma (Myanmar) hielten es für unter ihrer Würde, Unterstützung anzunehmen.
Ganze Regionen haben auch nach Tagen nichts erhalten – weil die Straßen zerstört sind oder es nie welche gab, weil ihre Regierung sie schlicht vergessen hat oder sie in Bürgerkriegsgebieten liegen. In weiten Teilen Asiens hat ein Menschenleben nicht den Wert wie in Europa – es sei denn, die Betroffenen gehören zur Herrschaftsschicht oder zu den devisenbringenden Ausländern, von denen die Tourismusbranche lebt und der Ruf eines Landes abhängt.
In Europa hat die Flut die Sehnsucht nach einer einigen, einer solidarischen Welt verstärkt. Doch es liegen Welten zwischen dem Alltag hier und der Wirklichkeit dort – und es trennen nochmals Welten die betroffenen Staaten. Die Gegensätze zwischen benachbarten Regionen sind größer, als man sich das in Europa vorstellen mag, wo der Binnenmarkt sowie die sehr ähnlichen politischen Verfassungen und Wirtschaftssysteme eine Angleichung der Lebensverhältnisse bewirkt haben.
Ganz anders in Asien – und diese Verhältnisse haben Einfluss auf den Umgang mit der Katastrophe: wer Hilfe bekommt und wer nicht, wo der Wiederaufbau forciert wird und wo nicht. Flutfolgen bewältigen müssen jetzt Demokratien (Indonesien), parlamentarische Monarchien (Malaysia, Thailand), halb autoritäre Regime (Sri Lanka) und Militärdiktaturen (Burma). Unter diesen Ländern sind wirtschaftliche Tigerstaaten (Malaysia, Thailand, aber auch Indonesien), Schwellenländer wie die Philippinen und arme Entwicklungsländer wie Sri Lanka. Mittendrin liegt die Wohlstandsinsel Singapur, die Schweiz der Region, unbehelligt von der Flut; der Flughafen ist zum Drehkreuz, der Stadtstaat zur Schaltzentrale der Hilfe geworden.
Doch so ein Raster gaukelt mehr Eindeutigkeit vor, als da ist. Die Einkommensgefälle innerhalb der meisten Länder, besonders im riesigen indonesischen Inselreich, sind mindestens so groß wie die zwischen den ärmsten und reichsten Staaten der Region. Die Übergänge zwischen demokratischen und autoritären Systemen sind fließend, die politische Stabilität ist sehr unterschiedlich. Thailand hat kürzlich mehrfach Studentenunruhen erlebt, aber der König vermag die Gesellschaft zusammenzuhalten, auch gibt es eine bedeutende Mittelschicht. Auf den Philippinen kamen im Wahlkampf 2004, der wie üblich von offener Gewalt begleitet war, 150 Menschen um.
Indonesien, mit rund 200 Millionen der bevölkerungsreichste islamische Staat, wird durch den Gegensatz von Zentrum und Peripherie geprägt. Dieses Problem kennt das kompakte Sri Lanka mit seinen 16,8 Millionen Einwohnern nicht, dafür beeinflusst der lange Bürgerkrieg gegen die tamilischen Sezessionisten den Alltag eines so kleinen Landes stärker als der Aceh- Konflikt die Geschicke Indonesiens – obwohl es auf Sri Lanka einen Friedensprozess gibt, von dem in Aceh noch keine Rede ist.
In fast allen Ländern toben gewaltsame Konflikte, oft mit islamistischem Hintergrund, die regional einem permanenten Bürgerkrieg gleichen oder sich eruptiv in Pogromen entladen, oft gegen christliche oder ethnische Minderheiten.
Der Massentourismus, über den viele Europäer die Region kennen gelernt haben, hat diese Spannungen und Gegensätze allenfalls lokal begrenzt domestiziert – und auch das eher oberflächlich. Die Berichte aus den Flutgebieten illustrieren das, mal auf tragische, mal auf fast komische Weise. Woher wusste man, dass Eingeborene auf den von der Außenwelt abgeschotteten Nikobaren Beben und Welle überlebt hatten? Ein Hubschrauber war auf einem Erkundungsflug mit Pfeilen beschossen worden. In Colombo (Sri Lanka) oder Aceh (Sumatra) hatte derweil wieder reger Flugbetrieb eingesetzt, um überlebende Touristen auszufliegen und Hilfsgüter hereinzubringen. Doch blieben Decken, Wasser, Verbandszeug länger in den Airport-Lagern liegen – es fehlten Transportmöglichkeiten in die Notgebiete.
Nehmen die Europäer überhaupt wahr, mit was für einem Kontinent unterschiedlichster Wirklichkeiten sie sich da solidarisieren – oder sehen sie vor allem, was ihre Herzen sehen wollen: Projektionsflächen ihrer Hilfsbereitschaft? Wen die Monsterwellen erwischten, trafen sie fast gleichzeitig, höchstens ein paar Stunden verzögert. Entwicklungsgeschichtlich aber liegen Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte zwischen dem Alltag in Singapur und dem der Eingeborenen auf den Nikobaren oder im Urwald von Borneo.
Die Ungleichzeitigkeit einer vermeintlich globalen Wirklichkeit trifft auch uns. Am vergangenen Mittwoch zum Beispiel, an dem ein stolzer Bundeskanzler die Deutschen für ihre großzügigen Spenden lobte (und seine Regierung für die zugesagten 500 Millionen Euro gleich mit dazu), erlebte Indonesien eine ganz andere Realität. Amerikanische Hubschrauber brachten Wasser, Nahrung, Kleidung und weitere Nothilfe. Von europäischer, von deutscher Hilfe ist dort wenig zu sehen, und das wird noch Tage so bleiben. Die großen Hilfsorganisationen, denen die Deutschen spenden, müssen erst mal Gerät und Personal hinschaffen.
Europas Staaten haben über Jahrzehnte die Investitionen in militärische Infrastruktur vernachlässigt – und dann aus der Not eine politische Tugend gemacht: Sie wollen im Gegensatz zu Amerika eine Soft-power-Weltmacht sein. Nun fehlen den Europäern die Basen, Flugzeug- und Hubschrauberträger, die sich eben nicht nur für Angriffe, sondern auch für Rettungseinsätze und Hilfstransporte eignen. Man kann Präsident Bush durchaus kritisieren, dass er anfangs seine eigene coalition of the helping bilden wollte, auch wird ihm niemand altruistische Motive unterstellen. Aber geht es nicht weniger selbstgerecht?
Natürlich will Amerika sein Image in der muslimischen Welt aufbessern. Aber möchte der Kanzler das nicht ebenso für Deutschland, auch mit Blick auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat? Wollen die Spender hierzulande nicht auch geliebt werden für ihre Großherzigkeit? Und müssen wir so tun, als läge unserer Unfähigkeit, lebensrettende Hilfe ganz schnell nach Asien zu bringen, eine moralische Überlegenheit zugrunde – dass wir halt keine militärische Weltmacht sein wollen?
War es wirklich selbstverständlich, dass die UN die Führung übernehmen, obwohl sie über weit weniger Präsenz in der Region, Transportmittel und Hilfsgüter verfügen? Kooperation zwischen US- Militär und dem tatkräftigen OCHA, dem UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Hilfe, wäre ja auch eine Variante gewesen.
Die Unsicherheit über das richtige Urteil in so vielen Fragen ist ja verständlich, diese Flut ist wie etwas Übernatürliches, nie Dagewesenes über uns gekommen. Darf man sich um vermisste Berliner mehr sorgen als um die vielen Thais oder Singhalesen, fragen die einen. Was wieder andere nicht verstehen – es sei doch ganz natürlich, dass einem das Schicksal der Menschen von nebenan nähergeht als das Unbekannter. Darf man jetzt zum Urlaub in die Region fahren, ist das zynisch oder gute Wiederaufbauhilfe?
Noch viele ähnliche Momente werden folgen, die gewohnte Sichtweisen und Überzeugungen in Frage stellen. Was soll unsere Hilfe bewirken, darf man sie an Bedingungen knüpfen, zum Beispiel einen politischen Friedensprozess in Aceh und eine gleichmäßigere Entwicklungspolitik auf Sri Lanka oder in Thailand, die allen Regionen und Bevölkerungsgruppen dient, nicht nur den Tourismuszentren? Damit sich unsere großen Erwartungen erfüllen, diese Katastrophe werde die Welt grundlegend verändern, natürlich zum Besseren. Was fällt in unsere Verantwortung und was in die Eigenverantwortung der betroffenen Länder, ihrer Eliten, ihrer Regierungen? Wie viel spenden die Millionäre dort? Es gibt ja viele.
In den ersten beiden Phasen der Katastrophenhilfe – die der Rettung Überlebender sowie der Bergung der Toten bemisst sich nach Tagen, die der Soforthilfe nach Wochen – waren und sind die betroffenen Regionen unbedingt auf die Unterstützung des Auslands angewiesen. Schon wegen der Ressourcen, über die nur wenige Länder verfügen – wozu nicht nur die US-Hubschrauberverbände zählen, sondern auch die Lazarett-Airbusse der Bundesregierung.
In der dritten und längsten Phase, die sich nach Jahren bemisst, dem Wiederaufbau, dagegen scheint das nur auf den ersten Blick selbstverständlich. Natürlich können die Länder die Milliarden, die jetzt gesammelt werden, gut gebrauchen. Doch nun gilt es, all die Erfahrungen in Erinnerung zu rufen, die westliche Entwicklungshilfe in vielen Jahrzehnten durch Fehler und Misserfolge gesammelt hat. Von denen ist in diesen Tagen der Spendenbegeisterung öffentlich kaum die Rede.
Falsche Hilfe schadet mehr, als sie nützt. Weil sie den Druck zur Selbsthilfe und zur Eigenverantwortung vermindert – also tendenziell entmündigt. Und weil kostenlose Güter von außen den lokalen Produzenten und Händlern ihre Lebensgrundlage nehmen. Wenn diese außergewöhnliche Katastrophe den zerstörten Regionen einen langfristigen Modernisierungsschub bescheren soll, nicht nur einen technischen, sondern auch einen politischen und gesellschaftlichen, dann muss der Westen seine Hilfe an Bedingungen knüpfen: mehr Eigenverantwortung der Eliten für gutes Regieren, mehr Respekt vor allen Bürgern und dem Wert jedes einzelnen Lebens.
Nur so lassen sich Bürgerkriege befrieden, Spannungen in den Gesellschaften überwinden, können rivalisierende Gruppen zu einer Nation zusammenwachsen. Nur so entsteht ein Südostasien mit sich angleichenden Lebensverhältnissen. Und wenn die Welt darüber die anderen Notgebiete in Afrika und Südamerika nicht vergisst, wird es vielleicht eines fernen Tages die ersehnte einige Welt geben. Es hängt mindestens so sehr von den Mächtigen in den Krisengebieten ab wie von den Hilfsbereiten in Europa.
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