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Ein iranisches Armeeboot feuert eine Rakete ab. Der Iran ist einer der Hauptgründe für den Aufbau des Nato-Raketenabwehrschirms.
© dpa

Nato-Raketenabwehr: Eine Pause beim Schutzschild-Ausbau wäre auch für Deutschland gut

Die Nato-Raketenabwehr sollte neu überdacht werden, dafür plädieren unsere vier Gastautoren Marcel Dickow, Oliver Meier, Max Mutschler und Michael Paul von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Denn wenn eine Einigung im Atomstreit mit Iran gelingt, entfällt die wichtigste Begründung für das System. Und auch sonst spricht vorerst einiges gegen einen weiteren Ausbau.

Im November 2010 hat die Nato auf ihrem Gipfel in Lissabon den Aufbau eines gemeinsamen strategischen Raketenabwehrsystems zur Abwehr weitreichender strategischer Raketen beschlossen. Noch befindet sich das Programm im Anfangsstadium. Ein erstes Schiff mit Abwehrraketen haben die Amerikaner im Mittelmeer stationiert, weitere sollen in den nächsten Jahren folgen. Parallel erfolgt der Ausbau von Raketenabwehrbasen in Rumänien und Polen. Ab 2018 soll das gesamte Bündnisgebiet gegen einen begrenzten Raketenangriff geschützt sein.

Eine unklare Bedrohungslage, mangelnde politische Unterstützung der Nato-Verbündeten der USA sowie Finanzierungsrisiken aber lassen eine Denkpause vor einem weiteren Ausbau ratsam erscheinen.

Erstens ist derzeit unklar, wie groß die Bedrohung durch weitreichende Raketen mit Massenvernichtungswaffen, vor denen die Raketenabwehr das Nato-Territorium schützen soll, künftig sein wird. Auch wenn das System offiziell keinen Adressaten hat: Es ist vor allem die potenzielle Gefahr iranischer Atomwaffen, gegen die sich das Bündnis wappnen will.

Im Oktober 2013 aber haben die vier Nato-Mitglieder Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die USA zusammen mit China und Russland neue Verhandlungen über eine Lösung des Nuklearkonflikts aufgenommen. Sollte es gelingen, mit dem neuen iranischen Präsidenten Hassan Ruhani eine Begrenzung und Kontrolle des Atomprogramms zu vereinbaren, entfiele die wichtigste Begründung für die Raketenabwehr. Die Chancen auf einen Erfolg der Gespräche mögen gering sein. Dennoch sollte die Nato den Fortgang der Verhandlungen abwarten, bevor sie beim Ausbau des Raketenabwehrsystems voranschreitet.

Ankara will tatsächlich chinesische Technik integrieren

Zweitens ist unklar, wie stark sich die Nato-Verbündeten der USA einem gemeinsamen Raketenabwehrsystem unter amerikanischer Führung verpflichtet fühlen. Die Einigung von Lissabon kam nur auf amerikanischen Druck zustande. Im September 2013 schockierte die Türkei die Nato-Verbündeten, als sie beschloss, Verhandlungen über den Kauf eines Raketenabwehrsystems aufzunehmen – mit Peking.

Ankara schlägt allen Ernstes vor, chinesische Militärtechnologie in das Nato-System zu integrieren - etwas, das die USA niemals akzeptieren würden, sehen sie doch China als ihren globalen Gegenspieler. Der mutmaßlich von Ankaras Verärgerung über die amerikanische Syrienpolitik geprägte China-Deal verdeutlicht, dass die Raketenabwehr für die Türkei eher Spiel- als ein Standbein ist. Die Verbündeten sollten daher noch einmal gründlich darüber diskutieren, welche Rolle die Raketenabwehr im Verteidigungsgefüge der Allianz spielen soll.

Drittens hängt von der politischen Unterstützung für die Raketenabwehr auch deren Finanzierung ab. In einigen europäischen Hauptstädten wird das Projekt nur unter der Voraussetzung unterstützt, dass die Amerikaner die Ausgaben für die Entwicklung, die Produktion und die Stationierung von Abwehrraketen und Radarsystemen allein schultern. Die Nato soll lediglich die Kosten für die Kommandostruktur und die Vernetzung der einzelnen Systemkomponenten tragen.

Zusätzliche nationale Beiträge erfolgen freiwillig. Bisher sind die Vereinigten Staaten bereit, für die Hardware zu zahlen. Vor dem Hintergrund des US-Haushaltsstreits ist es jedoch zunehmend zweifelhaft, ob der US-Kongress dies dauerhaft mit trägt. Im Juni hat bereits das republikanisch dominierte Repräsentantenhaus gefordert, dass die Europäer sich an den Kosten beteiligen. Würde diese Position auch von der Administration übernommen, stünde der Nato eine schwierige Debatte über die Lastenteilung bei der Raketenabwehr ins Haus.

Eine Denkpause wäre im deutschen Interesse

Diese in mehrfacher Hinsicht ungeklärte Situation legt es nahe, dass die Verbündeten sich noch einmal eingehend beraten, bevor sie weitere Abwehrsysteme stationieren und Schiffe anschaffen oder umbauen, die künftig als Plattformen für Raketenabwehrsysteme dienen. So könnten möglicherweise unnötige Investitionen vermieden und Konflikte über die Ausrichtung des Systems minimiert werden.

Glücklicherweise ist das gesamte Raketenabwehrvorhaben flexibel und modular angelegt, so dass Anpassungen an neue Rahmenbedingungen möglich sind. Vor dem Hintergrund der gestiegenen Bedrohung durch das nordkoreanische Atomprogramm beispielsweise haben die USA im März die Pläne für das System geändert. So hat Washington die vierte Phase des Ausbaus in Europa aufgegeben und plant stattdessen, mehr Abfangraketen an der amerikanischen Westküste zu stationieren.

Eine Denkpause bei der Raketenabwehr dürfte auch in Deutschlands Interesse liegen. Nicht zuletzt, weil sie Raum schaffen würde, das Gespräch mit Russland über eine Kooperation in diesem Bereich wieder aufzunehmen. Sonst droht eine weitere Entfremdung Moskaus, die eine Zusammenarbeit bei wichtigen Themen auch für Deutschland verkomplizieren würde. Zum anderen könnte die schwierige Entscheidung über die teure Befähigung deutscher Fregatten als Träger für Raketenabwehrsysteme zurückgestellt werden.

Die Nato-Mitglieder Mittel- und Osteuropas allerdings stehen einer Veränderung der Raketenabwehr skeptisch gegenüber. Sie sehen das Vorhaben grundsätzlich als Symbol der amerikanischen Solidarität mit Europa und als Schutz gegen ein Russland, das als bedrohlicher Nachbar wahrgenommen wird. Dennoch dürfte es auch in ihrem Interesse liegen, unnötige Investitionen und Konflikte zu vermeiden.

Eine Denkpause würde ohnehin an dem grundsätzlichen Bekenntnis der Nato zur Raketenabwehr nichts ändern. Dennoch gibt es viele gute Gründe, noch einmal gründlich zu überlegen, welchen Anteil ihrer knappen Verteidigungsressourcen die Allianzmitglieder für die gemeinsame Raketenabwehr bereitstellen wollen.

 

Marcel Dickow, Oliver Meier und Michael Paul forschen in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik, Max Mutschler in der Forschungsgruppe Amerika an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) u.a. zu Rüstung und Rüstungskontrolle. Die Stiftung berät Bundestag und Bundesregierung in allen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Artikel erscheint auf der SWP-Homepage in der Rubrik "Kurz gesagt".

Marcel Dickow, Oliver Meier, Max Mutschler, Michael Paul

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