Wende in der Ukraine: Ein Land im Rausch der Freiheit
25 Jahre nach dem Fall der Mauer erleben Europäer abermals auf anrührende Weise, welchen Wert Freiheit für jene hat, denen sie noch nicht selbstverständlich geworden ist. Der Ukraine ist zu wünschen, dass sie nicht die Methoden ihrer Vorgänger kopiert.
Was für ein Glücksmoment! Ein Herrscher, der auf protestierende Bürger schießen ließ, muss fliehen. Staunend spazieren Bürger durch den Palast und inspizieren die protzige Ausstattung, die mit dem gestohlenen Geld des Volkes finanziert worden war. All das läuft gesittet ab, ohne Vandalismus aus Rachegelüsten, als seien die vielen Toten der vergangenen Tage nur ein böser Traum gewesen. 25 Jahre nach dem Fall der Mauer erleben Europäer abermals auf anrührende Weise, welchen Wert Freiheit für jene hat, denen sie noch nicht selbstverständlich geworden ist.
Ein kräftiger „wind of change“ wirbelt durch die Ukraine. Freilich ist mit dieser plötzlich so widerstandslosen Wende, mit der Flucht Janukowitschs aus Kiew und der Freilassung von Julia Timoschenko eine friedliche Demokratisierung nicht garantiert. Eine Epoche ist zu Ende gegangen. Was die nächste bringt, ist offen. Vor allem zwei Risiken bedrohen die Zukunft: eine Überreaktion der Sieger und die Gefahr, dass russlandtreue Kräfte im Osten und auf der Krim zu Abspaltungsbeschlüssen aufwiegeln. Beides könnte die Lage leicht wieder außer Kontrolle geraten lassen.
Nicht die Methoden der Vorgänger kopiert
Der Wunsch der bisherigen Opposition, mit dem Janukowitsch-Lager abzurechnen, damit es nie wieder an die Macht kommen kann, ist nur zu verständlich, nach allem, was es sich hat zuschulden kommen lassen: Korruption, Rechtsbeugung, Auftragsmorde, Gewaltexzesse. Wie groß dieser Druck ist, lässt sich am Opportunismus der Abgeordneten ablesen, die vor kurzem noch in erdrückender Mehrheit Janukowitschs Macht sicherten und nun seine Partei der Regionen verbieten möchten. Rette sich, wer kann! Eine verlässliche Mehrheit für die neue Regierung ist das nicht. Dem Land ist zu wünschen, dass sie nicht die Methoden ihrer Vorgänger kopiert. Um den Zusammenhalt des Landes zu sichern, muss sie auf die Bürger im Osten und auf der Krim zugehen und ihnen zeigen, dass sie sich auch als deren Vertretung versteht.
Russland hat sein Interesse, die Ukraine in eine eurasische Wirtschaftsunion zu zwingen, bisher mit Brachialmethoden vertreten und wird das wohl weiter tun. Es diffamiert die Opposition als Terroristen, Verbrecher, Chauvinisten und Antisemiten – ja, vergleicht das Geschehen mit Hitlers Machtergreifung 1933. Das ist einerseits Propaganda, um das Angebot brüderlicher Hilfe zu begründen. Andererseits entzieht es sich wohl wirklich der Vorstellungskraft der Leute um Putin, dass Bürger freiwillig – ohne dafür bezahlt zu werden oder Teil einer Verschwörung zu sein – wochenlang auf Straßen und Plätzen ausharren, damit ihr europäischer Traum wahr wird.
Weil die Lage jederzeit kippen kann, sollte das polnisch-deutsch-französische Außenminister-Trio seine Vermittlung fortsetzen. Erstens, um den Siegern zu Großmut und Weitsicht zu raten. Zweitens, um das Gespräch mit den mächtigen Wirtschaftsbossen im Osten zu suchen. Diese Oligarchen kontrollieren regionale Medien und Abgeordnete und können zum wirksamsten Mittel gegen Abspaltungsversuche werden. Sie sind nicht alle, aber mehrheitlich für die europäische Option, jedenfalls auf lange Sicht. Bisher zögern sie aber, dies offensiv zu vertreten. Denn heute und für die nächsten Jahre hängen ihre Geschäfte am russischen Markt. Auch hier können Sikorski, Steinmeier & Co an einer Lösung mitwirken, wie eine solche ökonomische Offenheit nach beiden Seiten, Russland und der EU, gelingen kann. Ohne Einheit wäre die Freiheit teuer bezahlt.
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