Neues Unwort?: Ein Hoch auf die Identitätspolitik!
Überall wird sie geschmäht, die so genannte Identitätspolitik. Dabei sind gemeinsam vertretene Interessen der Kern demokratischer Willensbildung. Ein Kommentar.
Die Sache mit den Gespenstern, die irgendwo umgehen, ist nach 173 Jahren so abgegriffen, dass sich der Copyright-Inhaber, Herr Doktor Karl Marx, vermutlich jedesmal in seinem Londoner Grab wälzt, wenn sein Gespenst wieder einmal durch einen Zeitungstext spuken muss. Leider drängt es sich derzeit massiv auf, für eine ebenso geisterhafte wie hochpräsente Erscheinung: die „Identitätspolitik“.
Ein Unwort, jedenfalls als solches viel benutzt, dabei selten erklärt: Gemeint ist Interessenpolitik von und für Gruppen, die sich aufgrund von Eigenschaften zusammenfinden oder über sie definiert werden: Schwarze Menschen, People of Colour, Menschen mit körperlichen oder psychischen Einschränkungen, Transpersonen, Schwule und Lesben und solche, die sich im starren (binären) Mann-Frau-Schema nicht wiederfinden.
Nicht Minderheiten sortieren sich nach Farben, die Mehrheit tut's
Nun ist Interessenpolitik in einer parlamentarischen Demokratie ja nicht nur nichts Schlimmes, sondern ihr geradezu wesentlich. Nicht nur die Autolobby betreibt sie, auch Klimaschutzengagierte, Migrantinnen und Migranten, Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften, Berufsverbände – fast alles politische Einzelinteressen.
Aber nur die als „identitätspolitisch“ geschmähte Interessenvertretung wird laut beklagt und sogar unter Verdacht gestellt, angeblich Wichtigeres zu verdunkeln: die Lohn- und Rentenlücke zwischen Männern und Frauen, die miesen Chancen von Blinden oder Rollstuhlfahrerinnen auf Arbeits- und von Afrodeutschen auf Wohnungssuche.
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Das verwundert erstens insofern, als niemand gehindert ist, an diesen Zuständen etwas zu ändern. Seit wann kann eine Regierung nicht Sport- und Finanzpolitik zugleich machen, weshalb sollte eine Stadtverwaltung keine Radwege mehr einrichten können, weil sie zugleich daran arbeitet, mehr Frauen in Führungspositionen zu bekommen?
Zweitens: Es sind nicht die Minderheiten, die sich hinter Identitäten verschanzen. Es ist der Blick von außen, der sie dort einsortiert. Und der sie geradezu zwingt, sich gegen eine Diskriminierung gemeinsam zu wehren, die sie gemeinsam trifft.
Es kann einer noch so egal sein, ob sie sich als türkeistämmig fühlt, ob sie ihrer Hautfarbe, der Struktur ihres Haars irgendeine mehr als persönliche Bedeutung beimisst oder nicht, ob so etwas wie “schwarz” überhaupt wirklich existiert, ob einer religiös ist oder nur dafür gehalten wird: Entscheidend ist, wegen des einen oder andern keine Wohnung zu bekommen, am Flughafen aus der Schlange gewinkt und besonders gründlich kontrolliert zu werden oder deswegen keine Einladung zum Vorstellungsgespräch zu bekommen, trotz bester Qualifikation. „Wer als Jude angegriffen wird, muss sich als Jude verteidigen“, schrieb Hannah Arendt. Nähmen die, die „Identitätspolitik“ rufen wie „Haltet den Dieb!“, sich selbst ernst, müssten sie auch die Frauenbewegung ihrem Verdikt unterwerfen. Wie kamen die Frauen bloß auf die Idee, sich über so etwas wie das Geschlecht zu definieren?
Beauvoir wusste: Frauen werden zu Frauen gemacht
Haben sie aber gar nicht. Sie wurden, mit Simone de Beauvoir zu reden, einer anderen Großen, „nicht als Frauen geboren, sondern zu Frauen gemacht“. Und traten dagegen an, dass das hieß, aufs Haus reduziert, für schwächer und dümmer gehalten, am Lernen und freier Entscheidung gehindert zu werden. Jetzt machen andere darauf aufmerksam, dass das große Versprechen der Gleichheit für sie nicht gilt. Wegen Merkmalen, die sie nicht ändern können oder die man ihnen zuordnet. Statt sie als Spalter:innen zu denunzieren, sollte man dankbar dafür sein, dass sie Leerstellen ausleuchten.
Umgekehrt wird ein Schuh draus: Gespalten ist ein Gemeinwesen, das hinnimmt, dass alle gleich, aber ganze Gruppen weniger gleich sind als andere, womöglich sobald sie die Wohnung verlassen. „Identitätspolitik“ ist nicht nur normale Interessenpolitik – für das Gemeingut Bürgerrechte wohlgemerkt. Sie ist Arbeit am sozialen Frieden.
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