NSU-Prozess: Ein Ausreißer
Das erfundene Opfer im NSU-Prozess schmälert nicht die große Bedeutung der Nebenkläger. Ein Kommentar
W er den NSU-Prozess begleitet, blickt in viele Abgründe. Mörderischer Fanatismus junger Rechtsextremisten, schwere Versäumnisse der Sicherheitsbehörden, Alltagsrassismus bei Zeugen, die ihre politische Haltung als „normal“ bezeichnen. Und jetzt kommt noch Betrug hinzu. Ein Anwalt hat dem Oberlandesgericht München eine Mandantin „Meral Keskin“ präsentiert, die im Juni 2004 bei dem Bombenanschlag der Terrorzelle in der Kölner Keupstraße verletzt worden sei. Doch die Frau und ihr Schicksal existieren offensichtlich nur in der Fantasie des Juristen, der selbst von einem Opfer des Verbrechens getäuscht worden sein will. Ein Abgrund mehr im Prozess.
Und eine Zumutung für die vielen Nebenkläger, die noch heute unter den Verbrechen des NSU leiden. Das sind nicht nur die Opfer des Anschlags mit der Nagelbombe in der Keupstraße. Auch die Angehörigen der zehn Ermordeten sind traumatisiert. In der Hauptverhandlung als Zeuge aussagen zu müssen, ist für viele, die der Terror getroffen hat, unerträglich. Erst recht, wenn sie auf Beate Zschäpe und weitere hartnäckig schweigende Angeklagte schauen.
Trotz der zu erwartenden Qualen haben die überlebenden Opfer und die Angehörigen der Toten sich als Nebenkläger registrieren lassen. 94 stehen auf der bisherigen Liste des Gerichts – und dazu 63 Anwälte. Das ist für einen Prozess außergewöhnlich. Aber die massive Präsenz der Nebenklage hemmt das Verfahren nicht. Daran ändert auch ein schwarzes Schaf bei den Anwälten nichts. Und ein womöglich geldgieriges Opfer, das dem Juristen das Phantom „Meral Keskin“ angedreht haben soll.
Die erste Erkenntnis aus diesem Fall klingt banal, ist aber wohl unerlässlich. Weder Opfer noch Opfer- Anwälte sind bessere Menschen. Die zweite Lehre: Richter sollten genau prüfen, ob die Angaben eines Anwalts stimmen, der für ein Opfer die Nebenklage vertreten will. Das Risiko, Juristen könnten ein Verbrechen nutzen, um sich in einen Prozess einzuschleichen und abzukassieren, muss offenbar stärker begrenzt werden.
Natürlich ist keiner Strafkammer und keinem Strafsenat zuzumuten, im Zwischenverfahren vor Beginn eines Prozesses bereits eine Beweisaufnahme zu absolvieren. Sie ist der Hauptverhandlung vorbehalten. Doch erfahrenen Richtern ist bekannt, dass es Anwälte gibt, die sich Mandate erschleichen. Erst recht bei einem großen Verfahren, das ein langfristiges Honorar garantiert und die Chance bietet, den eigenen Namen in den Medien zu platzieren.
Dass auch im NSU-Prozess solch schwarze Schafe herumlaufen, kann jedoch den Beitrag der Nebenklage, gerade in diesem Verfahren, nicht schmälern. Die Mehrheit der Opfer-Anwälte ist enorm engagiert und hat mit detaillierten Anträgen und bohrenden Fragen an Zeugen viel zur Aufklärung beigetragen. So hat der NSU-Prozess in München die Notwendigkeit der Nebenklage besonders verdeutlicht. Vor Beginn der Verhandlung im Mai 2013 gab es bei Juristen und Journalisten die Sorge, die vielen Opfer-Anwälte würden der Institution Nebenklage schaden. Das taten sie nicht. Trotz Ausreißern.