Kolumne "Ich habe verstanden": Die selbsterfüllende Prophezeiung
Im Jahr 1994 wurde in Deutschland der Klatsch entdeckt - und zwar der hässliche, laute, dumme. In diesem Jahr feiern so einige Erzeugnisse aus dieser Zeit ihr 20-jähriges Jubiläum.
Ach, 1994, was war das bloß für ein Jahr! Die Älteren erinnern sich: Eine im Prinzip bessere Nationalmannschaft als die Weltmeistertruppe von 1990 scheidet bei der WM im Viertelfinale aus. Kurt Cobain scheidet freiwillig aus dem Leben. Kate Moss und Johnny Depp lassen sich nicht scheiden, sondern werden ein Paar und zeigen, dass man als Paar nicht aussehen muss wie Herr und Frau Langeweile. Nelson Mandela wird Präsident von Südafrika. Die erste Platte von Oasis erscheint. Pulp Fiction läuft im Kino. Alles 20 Jahre her – dieses Zahlenspiel konnte ich Ihnen jetzt nicht ersparen.
Das Nachfolgende kann ich Ihnen leider auch nicht ersparen, denn schließlich sind Sie vom Tagesspiegel kritischen Journalismus gewohnt: Im Jahr 1994 wurde in Deutschland der Klatsch entdeckt: Und zwar nicht der schöne, schlaue, stille, wie sie ihn in München dank der Abendzeitung schon hatten – sondern der hässliche, dumme, laute. In diesem Jahr feiern sowohl das Fachblatt „Gala“ als auch die RTL-Fernsehzumutung „Exklusiv – Das Starmagazin“ ihr 20-jähriges Jubiläum.
Klatsch am Kiosk und im TV
Beide Formate sind erfolgreich und seit ihrer Gründung gab es viele Nachahmer – Klatschmagazine am Kiosk und auf anderen Sendern, manche besser, manche schlechter. Und ich will jetzt mit Sicherheit nicht so tun, als würde ich mich über diese Formate erheben oder deren Themen fragwürdig finden; ich habe nichts gegen Klatsch, nichts gegen Stars (wenn sie denn welche sind und nicht Silvie Meis/van der Vaart heißen) – ich habe was dagegen, wenn ich gelangweilt werde von Menschen, deren Job angeblich die Unterhaltung ist. Denn ich habe ja auch was gegen einen Arzt, der mich krank macht oder gegen einen Polizisten, der mich beraubt.
In der aktuellen "Zeit" hat Ursula März einen Text über Frauke Ludowig und deren TV-Magazin „Exklusiv“ geschrieben. Der Text ist, wie von der Autorin nicht anders zu erwarten, klug, böse, amüsant, analytisch – man kann ihm nicht widersprechen. Deshalb erlaube ich mir nur, eine Kleinigkeit hinzuzufügen, es betrifft die generelle Haltung gegenüber vermeintlichen Stars, die über solche Formate ja im besten Fall transportiert werden soll und aus der sich dann der Fernsehzuschauer oder der Leser seine eigene Haltung bilden kann. Das Problem ist: Die Haltung fehlt.
Frauke Ludowig - ohne Selbstironie
Ludowig, geboren in Wunstorf, moderiert ihre Sendung jeden Abend wie ein kleines Kind, das sich die Nase am Schaufenster eines Süßigkeitengeschäfts platt drückt – so, als könne sie es immer noch nicht fassen, dass sie es als Volontärin des niedersächsischen Formatradiosenders ffn zu einer Person gebracht hat, über die Boris Becker auf Twitter schreibt „ich könnte euch Geschichten erzählen...“. Boris Becker hat dann keine Geschichten erzählt – wem auch? Frauke Ludowig könnte die ja wahrscheinlich in ihrer eigenen Sendung nicht bringen, und genau darin liegt ja das Problem: Es fehlt dem Klatschmagazin die Selbstironie. Ursula März beschreibt in ihrem Text, das die Moderation von Ludowig zuweilen offizieller daherkommt als die der Nachrichtensendung von RTL fünfzehn Minuten später. So als ob „pikante Details aus dem Liebesleben von Soundso“ staatstragender wären als ein Gesetzesentwurf der Großen Koalition.
Wahrscheinlich müssen Menschen ihren Beruf ernst nehmen, und sei er noch so fragwürdig, damit sie morgens aufstehen und in den Spiegel schauen können. Aber worum geht es denn hier gleich noch mal? Teilweise um Menschen, die die Promi-Tanz-Show „Let‘s Dance“ noch nicht einmal gewonnen haben. Und darin liegt das Problem: Dass in Deutschland Menschen berühmt sein können, weil sie mal bei „Exklusiv“ waren, weil sie mal bei „Let’s Dance“ waren, weil sie mal im „Dschungelcamp“ waren, weil sie mal neben Noah Becker auf einer Party standen, weil darüber „Exklusiv“ mal berichtet hat. Das alles ist ein Organismus, der sich von sich selbst ernährt. Wenn es ab morgen „Exklusiv“ nicht mehr geben würde, dann würde dieser Organismus sterben. Dann wären wir auf einen Schlag alle schlechten Fernsehformate los und die Hälfte aller vermeintlichen Prominenten.
Denn die Wahrheit ist: das ist kein Boulevardjournalismus. Das ist eine sich selbsterfüllende Prophezeiung.
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