Flüchtlingsdrama: Die offene Tür ist keine Lösung
Die Empörung über das Sterben der Flüchtlinge im Mittelmeer verlangt nach radikalem Denken. Ein völliges Umsteuern aber würde Europa stärker herausfordern, als die Befürworter einer Öffnung zugeben wollen. Ein Essay
Das Gegenteil von gut ist nicht böse, sondern gut gemeint, hat Kurt Tucholsky gesagt. Der Satz gilt in mancher Hinsicht auch für die Debatte über Flüchtlinge. Sehr laute Stimmen verbreiten die besten Vorsätze. Dabei muss man durchaus fragen, in welcher Welt wir aufwachen würden, wenn die guten Ratschläge sich durchsetzen würden. Doch die Politik hält kaum dagegen. Guten Absichten zu widersprechen, lässt Politiker immer in fragwürdigem Licht erscheinen.
Beginnen wir mit einem Gedankenspiel: Was würde passieren, wenn es gar keine Abschottung Europas gegen Flüchtlinge mehr gäbe, wenn jedem ein sicherer Weg nach Deutschland oder Europa garantiert würde? Zehntausende Afrikaner würden dann in Bamako, Abuja oder Bangui und vielen anderen Städten in Flugzeuge ein- und in Frankfurt wieder aussteigen. Europäische Schiffe würden libysche und nigerianische Häfen anlaufen, dort Menschen abholen und nach Palermo oder Brindisi bringen, von wo sie mit in staatlichem Auftrag operierenden Bussen weiter nach München, Berlin, Hamburg oder MecklenburgVorpommern fahren würden.
Falls sich auch andere europäische Länder völlig öffnen würden, würden die Geflohenen auch direkt nach Prag, Warschau oder Riga fahren. Flüchtlinge aus Zentralasien würden das als Ermutigung begreifen und sich ebenfalls verstärkt nach Europa aufmachen. Dessen Metropolen würden dann allerdings anders aussehen als heute. Die Gefahr ist groß, dass wir dann bald in einer weniger liberalen und weniger großzügigen Gesellschaft leben würden, als wir das heute tun.
Gehen wir einen Schritt zurück: Wann und wo beginnt eigentlich das Elend der Flüchtlinge? Erst in dem Moment, da ein Afrikaner ein Schiff besteigt, das ihn über das Mittelmeer nach Europa bringen soll, oder schon lange vorher? Manche erwecken den Eindruck, nur die EU sei zuständig für die Menschen in Not. Das aber ist falsch.
Die Verantwortung für den Exodus tragen die afrikanischen Regierungen
Denn die Verantwortung dafür, dass die Flüchtlinge ihre eigene Heimat verlassen, tragen zuallererst afrikanische Regierungen. „Weder den entrückten afrikanischen Machthabern noch der Afrikanischen Union (AU) ist der tausendfache Tod im Mittelmeer besonderen Aufhebens wert“, schrieb kürzlich der Ex-Diplomat Volker Seitz. Warum, fragte der Afrika-Kenner, hatten sich nach der Katastrophe im Mittelmeer nur die Staats- und Regierungschefs der EU getroffen, nicht aber die der AU?
Es gab aber keinen Sondergipfel der AU, kein afrikanischer Staat versprach seinen Bürgern nach der Katastrophe eine bessere Zukunft. Deshalb hätte das „Zentrum für politische Schönheit“, das kürzlich in Berlin demonstrierte, die Särge der Ertrunkenen besser vor den Palästen afrikanischer Potentaten verscharrt.
In einem Punkt haben die Kritiker recht: Die europäische Politik ist dazu verpflichtet, Entscheidungen zu überprüfen oder zu unterlassen, die im Nachbarkontinent Menschen die Existenzgrundlage entziehen – die bekanntesten Beispiele sind die Überfischung der Fanggründe vor afrikanischen Küsten und die massive Exportförderung für Hähnchenteile, die lokale Märkte für Kleinbauern zerstört. Jahrzehnte nach dem Ende des Kolonialismus ist Europa aber nicht verantwortlich für jede Fehlentwicklung in Afrika.
Rettung aus Seenot ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Es spricht für die Öffentlichkeit Deutschlands und Europas, dass sie sich nicht abwendet angesichts der Bilder Ertrinkender oder Ertrunkener. Trotzdem stellt sich die Frage: Wenn Europa eine Verantwortung für Gefährdete hat, warum erschüttert uns der Tod im Mittelmeer dann mehr als etwa das ebenfalls allgegenwärtige Sterben auf der Fahrt quer durch die Sahara oder als das Dahinsiechen der potenziellen Flüchtlinge in ihren Herkunftsländern?
Sind es nur die räumliche Nähe, die Wahrnehmung des Mittelmeers als europäischer Ozean und die Möglichkeit für die EU, in internationalen Gewässern tätig werden zu können, die uns stärker zum Handeln auffordern? Und warum verlangt niemand, die EU solle Schiffe schicken, um jene Flüchtlinge zu retten, die eigentlich nach Australien wollten, aber von der Marine des Landes nach Indonesien, Vietnam oder Sri Lanka zurückgezwungen wurden?
Offenbar gibt es Grenzen der Hilfspflicht, auch wenn sie schwer zu definieren sind. Diese Grenze hat mit den eigenen Möglichkeiten zu tun. Seit Jahrzehnten unterstützt Deutschland arme Länder, der Etat des Entwicklungsministeriums wächst, nur Amerikaner und Briten geben mehr aus.
Hilfe hat Grenzen - selbst tragende Entwicklung tut Not
Die Wirkung der Intervention aber hat Grenzen, die auch von noch so lauten Rufen nach mehr Hilfe nicht aus der Welt geschafft werden können. Jenen Ländern, die jeweils Dutzende oder gar Hunderte von Millionen Menschen vom Hunger befreit haben wie China, Indien und Brasilien, gelang das nicht durch Eingriffe von außen. Nicht Entwicklungszusammenarbeit hat diese Staaten so weit gebracht, sondern eine selbst initiierte, selbst tragende Wirtschaftsentwicklung.
Entwicklungszusammenarbeit lindert Not und trägt durch Wissenstransfer zum globalen Klimaschutz bei. Doch gemessen am milliardenschweren Aufwand über viele Jahrzehnte sind die Ergebnisse ernüchternd. Heute sagen viele Experten: Die Entwicklung eines Landes lässt sich kaum von außen steuern. Schon gar nicht dort, wo die Regierung systematisch ihr eigenes Land ruiniert.
Eritrea in Ostafrika zum Beispiel ist eines der repressivsten Regime der Welt und eines der Hauptherkunftsländer für Flüchtlinge. Jeden Monat fliehen Tausende vor Schikanen, Willkür und Folter. Aber noch niemand hat einen Plan vorgelegt, wie sich die Lage dort von außen so verbessern ließe, dass Eritreer nicht anderswo ihr Heil suchen müssen. Nicht der Entwicklungsstand ist das größte Problem, die Politik ist es. Gegen sie scheiden auch die härteren Mittel aus. Die Erfahrung mit dem Aufbau von funktionierenden Demokratien nach Militärinterventionen durch den Westen in den vergangenen Jahren liefern wahrlich keine Blaupausen für ähnliche Versuche.
Mit anderen Worten: Die Chance Europas ist verschwindend gering, ganze Regionen oder gar Kontinente so schnell in blühende Landschaften zu verwandeln, dass der Migrationsdruck spürbar gebremst wird.
Eine Mehrheit in Deutschland begreift Zuwanderung heute nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung für die eigene Gesellschaft. Das ist eine erfreuliche Entwicklung, wenn man an die noch in den 90er-Jahren weit verbreiteten Ressentiments denkt. Viele haben hart dafür gearbeitet, dass sich die Gesellschaft bis zu diesem Punkt entwickelt hat. Sie scheint sich wohlzufühlen in ihrer eigenen Liberalität und Weltoffenheit.
In Deutschland gehöre der Flüchtlingsschutz „in ungewöhnlicher Weise zum Selbstverständnis von Staat und Gesellschaft“, lobte kürzlich der Vertreter des UN-Flüchtlingskommissariats, Hans ten Feld. Doch ein für allemal gesichert ist diese Haltung keineswegs. Der Weg zurück ist offen.
Lange schien in Europa der Fortschritt in Richtung einer offeneren, liberaleren und säkularere Gesellschaft selbstverständlich. Eine andere Entwicklung war gar nicht denkbar. Seitdem in vielen EU- Ländern Rechts- und Linkspopulisten die Politik herausfordern, schwindet der Optimismus.
Einen Faktor sollte man bedenken: Die Entwicklung hin zur Weltoffenheit war nur möglich, weil eine verfassungsändernde Mehrheit Anfang der 90er das Asylrecht verschärfte – gegen vehemente Proteste von Linken und Grünen. Die Zahl der Asylbewerber, die Anfang der 90er noch 400 000 im Jahr betrug, ging nach dem Asylkompromiss zurück, die Zustimmungswerte der zuvor aufstrebenden „Republikaner“ sanken in den Keller. Nicht nur die lautesten Vorkämpfer der Toleranz und Weltoffenheit haben also Anteil an der positiven Entwicklung. Wenn das Gefühl der Sicherheit verbreitet ist, haben Liberalität und Weltoffenheit eine Chance. Wenn die Sicherheit verloren geht, haben Liberalität und Weltoffenheit keine Chance.
Warum zuviel Zuwanderung eine Gesellschaft überfordern kann
Denn zu viel Zuwanderung kann eine Gesellschaft überfordern. Diese These provoziert bei vielen Abwehr, weil sie ähnliche Gedanken oft nur aus rechtsradikalen Zusammenhängen kennen. Es ist aber ein Unterschied, ob jemand völkische und fremdenfeindliche Sprüche ablehnt oder Ergebnisse moderner Sozialforschung ignoriert. „Wir wissen, dass ein gewisses Maß an kultureller Verschiedenheit einer Gesellschaft nutzt, denn die neuen Migranten bringen Innovation und Abwechslung“, behauptet der britische Entwicklungsökonom Paul Collier: „Aber das gilt nur bis zu einem gewissen Maß, denn zu ungleiche Gesellschaften können negative Folgen haben.“
Collier begründet das so: Das gegenseitige Vertrauen ist in modernen, reichen Gesellschaften besonders wichtig, weil wir über sehr komplexe Institutionen verfügen, die darauf aufbauen. Wenn eine Gesellschaft zu verschieden zusammengesetzt sei, sinke das Vertrauen und die Bereitschaft, Sozialleistungen zu gewähren.
Der britische Ökonom verweist auf Umfragen, wonach rund 40 Prozent der Einwohner der ärmeren Länder im reicheren Teil der Erde leben wollen. Afrikas Bevölkerung wird sich in wenigen Jahrzehnten vervielfachen. Auf die Frage, ob viele dieser Menschen in Europa willkommen geheißen werden sollen und was mit den Herkunftsländern passiert, wenn die Fähigsten auswandern, geben viele Kritiker der EU-Flüchtlingspolitik keine Antwort.
„Die offene Tür ist keine Option“, heißt Colliers Schlussfolgerung. Einwanderungskontrollen seien „kein Relikt aus rassistischen Zeiten“, sondern ein „absolut notweniges Instrument“. Schließlich sei eine Grenze der Zuwanderung auch notwendig, um im Kampf um knappe öffentliche Ressourcen gering qualifizierte Einheimische und frühere Zuwanderer vor der neuen Konkurrenz zu schützen.
Auch wer einen optimistischeren Blick auf die Aufnahmebereitschaft von Nationen pflegt als Collier, und das tun viele Migrationsexperten, muss zugeben: Niemand kann garantieren, dass Deutschland auch dann eine relativ konfliktfreie und liberale Gemeinschaft bliebe, wenn wir Einwanderung in völlig anderen Dimensionen als gegenwärtig erleben würden.
Das "Wunder" an Kooperation in modernen Nationen kann auch verspielt werden
Moderne Nationen sind keine Bluts- oder Abstammungsgemeinschaften, sondern im Idealfall das Ergebnis eines ständigen Aushandlungsprozesses auf der Grundlage allgemeiner Regeln, nämlich der Gesetze und der Verfassung. Jeder, der rechtens hier ankommt, ist eingeladen, sich zu beteiligen. Wer aber - zum Beispiel nach der Prüfung eines Asylbegehrens – den vorübergehenden Rechtsstatus verliert, muss wieder gehen, damit das System weiter funktioniert.
Moderne Sozialstaaten, sagt Paul Collier, seien auch „ein Wunder an Kooperation und institutionalisierter Teilhabe“, aber das könne auch „in einer oder zwei Generationen verspielt werden“. Genau darin liegt die Gefahr.
Der aufgeklärte Bürger will allen Menschen helfen, mit der EU die Not dieser Welt beenden und in einem Land ohne große Konflikte weiterleben. Nur eines macht er sich nicht klar: Jedes dieser Ziele alleine ist schon schwierig. Alle drei Ziele zusammen sind illusorisch.
Wenn man nicht nur Maximalziele formuliert, sondern auch die eigenen Möglichkeiten in den Blick nimmt, würde das eine Debatte über mehr Humanität an Europas Grenzen und über den Weg zu einem bunteren Deutschland erleichtern: Wie viele Flüchtlinge will Deutschland aufnehmen? Wie können legale Zugangswege geschaffen werden, die es Asylbewerbern ermöglichen, jenseits des Mittelmeers einen Antrag zu stellen? Wie viele Millionen können wir in den massiven Ausbau eines Integrationssystems stecken, damit aus Flüchtlingen bald Bürger und Steuerzahler werden?
Wenn aber jedem, der in der Flüchtlingsdebatte auf Schwierigkeiten oder Gefahren hinweist, sofort jede Moral abgesprochen wird, wird dieses Gespräch niemals in Gang kommen.