Kontrapunkt: Die Linke und die Beschneidung - Konflikt der Ideale
Rechtfertigt eine vermeintliche Stärkung des Kindeswohls eine Diskriminierung von Minderheiten? So lautet die neue Gewissensfrage nach dem Beschneidungs-Urteil des Kölner Landgerichts, meint Malte Lehming. Das könnte zur Spaltung der deutschen Menschen- und Bürgerrechtsbewegung führen.
Das ist das Ideal: Wir wollen aufgeklärt sein, human und tolerant. Wir kümmern uns um Minderheiten, kämpfen gegen Xenophobie und nehmen am Karneval der Kulturen teil. Was aber, wenn zwei dieser Ideale in Konflikt miteinander geraten – das Humane und die Toleranz etwa oder das Aufgeklärte und die Anti-Diskriminierung? Dann zerbröselt das Weltbild. Dann wird aus der Wahl zwischen gut und böse plötzlich eine zwischen falsch und verkehrt.
Es könnte sein, dass die Diskussion über das Kölner Beschneidungsverbotsurteil für die deutsche Linke ebenso bedeutsam wird, wie es die über den Pazifismus vor dem Kosovokrieg war. Damals reifte unter großer Seelenpein die Einsicht, dass sich auch derjenige schuldig machen kann, der ein absehbar großes Menschenrechtsverbrechen nicht verhindert. Es ging um das Konzept der humanitären Militärintervention.
Heute heißt die Gewissensfrage, ob eine vermeintliche Stärkung des Kindeswohls die Kriminalisierung von in Deutschland lebenden Juden und Muslimen rechtfertigt. Der Orientalist und Schriftsteller Navid Kermani drückt es in seiner Kritik an dem Urteil noch drastischer aus: „Die Mehrheitsgesellschaft will Juden und Muslimen einreden, sie seien alle – mehr oder weniger – krank, sie hätten sozusagen einen Schuss weg und würden es nur nicht merken.“
Für religiöse Organisationen ist der Fall klar. Der Zentralrat der Juden, der Zentralrat der Muslime, die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche lehnen das Kölner Urteil ab. Für antireligiöse Organisationen ist der Fall auch klar. Konfessionslose, Atheisten, Humanisten und die Laizisten in der SPD begrüßen es. Und die Parteien? Interessant sind vor allem die Reaktionen bei Grünen, Piraten und Linken. Prominente Grüne haben sich auf die Seite der Minderheiten, also Juden und Muslime, gestellt. Claudia Roth, Cem Özdemir, Volker Beck und Renate Künast beklagen vor allem die integrationspolitischen Konsequenzen, das Abdrängen in die Illegalität.
Hingegen ist von Katja Kipping und Bernd Riexinger, den neuen Chefs der Linken, nichts zu hören. Die an sich religionsfernen Piraten wiederum diskutieren das Thema zwar in einigen Foren, aber es spricht Bände, dass der klügste Beitrag dazu von der Ex-Funktionärin Marina Weisband stammt („Das Ende vom Glied“).
Das fremde Andere zu respektieren ist die wahre Integrationsleistung
Die Zurückhaltung in Kreisen derer, die sich ansonsten nicht eben Meinungsschwäche attestieren lassen, hat ihren Grund. Für rund vier Millionen Muslime und 110.000 Juden, die in Deutschland leben, hat das Urteil unmittelbare Folgen. Viele von ihnen nehmen es als Eingriff in ihre fundamentalen Rechte wahr. Keine Wunder, dass sie es in ihre Diskriminierungserfahrungen einreihen. Wären die Gastarbeiter aus islamisch geprägten Ländern gekommen, wenn sie gewusst hätten, dass die Pflege ihrer Traditionen mit dem deutschen Gesetz kollidiert? Wollen Juden, die in Deutschland leben, in Festtagsreden künftig weiterhin als Beweis dafür herhalten müssen, dass Deutschland sich gewandelt hat, während sie sich gleichzeitig wegen des Beschneidungsverbots gezwungen sehen, vor einem „Ende des Judentums in Deutschland“ zu warnen?
In einem Aufsatz für die „Zeit“ hat der Philosoph Robert Spaemann gerade nachgewiesen, warum die Ablehnung religiöser Prägung in der Kindheit einem inhaltsleeren und unsinnigen Ideal folgt („Der Traum von der Schicksallosigkeit“). Denn den Nullpunkt im Leben eines Menschen gibt es nicht. „Wer Kinder von einem Leben auf dem Hintergrund einer göttlichen Dimension fernhält, der prägt sie atheistisch. Eine Welt ohne Gott, das ist ebenso eine Prägung wie eine Welt mit Gott. Der Gedanke, man müsse Kinder vor ,Fremdbestimmung’ bewahren, verkennt, dass ohne anfängliche Fremdbestimmung es nie eine Selbstbestimmung geben kann.“
Hoffentlich dämmert es langsam zumindest einigen instinktiven Unterstützern des Kölner Urteils, dass sich Toleranz und Multikulti manchmal nur durch eine größere Offenheit für Religiöses verwirklichen lassen. Gerade die Muslime in Deutschland definieren sich stark durch ihre Religion. Das fremde Andere in seiner Fremdheit stehen zu lassen, zu ertragen und zu respektieren, ist die wahre Integrationsleistung.
Über die Gretchenfrage „Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?“ könnte es folglich in der deutschen Menschen- und Bürgerrechtsbewegung zur Spaltung kommen. Einerseits in jene, die die xenophobischen Folgen ihrer Religionsaversion im Namen einer höheren Moral in Kauf nehmen. Andererseits in jene, die bestrebt sind, immer wieder neu einen Ausgleich zu finden zwischen Humanität und Diskriminierungsverbot. Entscheiden muss sich jeder selbst.
Malte Lehming
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