POSITIONEN: Die Legende von der frommen Helene
Das große Theater um den Roman „Axolotl Roadkill“ belegt die Langeweile der Literaturkritiker
Träumen Sie auch davon, einmal ein Buch zu schreiben. Nein? Sollten Sie aber. Schreiben lernt bei uns schließlich jeder. Deshalb greifen nicht nur Schriftsteller, sondern auch Schauspieler, Sänger, Politiker, Fernsehmoderatoren, Manager, Menschheitsbeglücker, Lebensberater oder Kabarettisten zur Feder. Denn Bücherschreiben macht glücklich.
Ruhm stellt sich allerdings selten ein, es sei denn, der Schreibende legt der Gesellschaft etwas Sperriges vor. Etwas nie Gelesenes muss es sein, etwas rasend Unanständiges etwa, Obszönes, Grausames, aber bitte nicht ohne sozialkritischen Anspruch im Hintergrund. Eine veritable Sauerei mit tiefer Bedeutung, der Bürgerschreck als Weltkritik und Weltverbesserung: Das ist es, das bringt es. So kommt man auf die Bestsellerlisten.
Auf diese Weise hat uns Charlotte Roche an ihre Feuchtgebiete herangeführt. Jetzt erleben wir, wie die seit vergangener Woche gerade mal achtzehnjährige Helene Hegemann mit ihren Assoziationen aus einem Berliner Jugendsumpf, wortreich aber in verknotetem Deutsch, die Bürger schockt, die Kritik und den Verlag erfreut. Es ist ein Buch, in dem Halbstarke und Halbschwache nie zur Schule gehen, niemals arbeiten, dafür aber in Drogenexzessen versinken, ein Buch, in dem sie in homo- und heterosexuellen Ausschweifungen baden, in dem aufgeschlitzt und zugeschnürt wird, in dem Blut, Sperma und andere Körpersäfte von Seite zu Seite immer reichlicher fließen und sich die f-Wörter sowie anderes mehr von dieser Sorte nur so jagen.
Sei’s drum. Große Literatur, sagen die einen. Alles Tinnef, meinen die anderen. Sollen sie sich streiten. Aber das Ausmaß dieses Streites, quer durch die Medienlandschaft, auf hehrsten Feuilletonseiten und angesehensten Sendeplätzen nachgerade hysterisch ausgetragen – dieses ganze Riesentheater lässt einen doch am Verstand und an dem Maß der Streitenden zweifeln.
Mich erinnert diese Aufregung an das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Denn was entdeckt die kritische Kritik in den Ausschweifungen der unfrommen Helene? Tatsächlich, sie entdeckt darin eine Revolte gegen die Welt der Erwachsenen, so die „FAZ“. Das also ist des Pudels Kern. Aber ist es vielleicht doch „das Grundgeräusch unserer Gegenwart“, woran eine Kollegin in der „Zeit“ glaubt? Arme Gegenwart, wenn es so wäre, und arme darin denunzierte Jugend. Doch es ist gar nicht das Buch selbst, das auf den Geist der Zeit verweist. Allenfalls deutet es auf den Ungeist in einer Nische Berlins hin. Vielmehr ist es das völlig unverhältnismäßige Echo auf das Buch, das uns als Aktualität anspringt. Denn diese Debatte wird nicht nur mit so schauderhaften Begriffen wie „Literarizität“ und „Intertextualität“ ausgetragen, die Ijoma Mangold, wiederum in der „Zeit“ , ins Feld führt, um zu relativieren, dass Helene Hegemann zu allem Übel noch heftig abgeschrieben hat.
Diese hochgeschraubte Auseinandersetzung beweist auch, dass sich etliche, doch von Berufs wegen intelligente Leute – also Kritiker, Journalisten, Redakteure und Schriftsteller – langweilen, dass sie in abstrusen und weitgehend unverständlichen Texten ein Abenteuer suchen, welches sie in ihrem eigenen Leben und Schreiben offenkundig nicht finden. Wie anders käme „Axolotl Roadkill“ sonst zur Anwartschaft auf den Preis der Leipziger Buchmesse?
Die mediale Erregung um diese Collage erzählt nicht zuletzt davon, dass die literaturkritische Intelligenzia hier im eigenen Saft schmort, dass ihr die Realität und mit der Realität die eigene Urteilskraft abhanden gekommen ist, dass sie – ob nun pro oder contra Schwanzlurch – die literarische Fingerübung eines Teenagers zum Weltereignis aufbauscht. Wenn das so weitergeht, wird man demnächst eine Siebenjährige entdecken und ihr Gestammel über die ersten Doktorspiele zum Bestseller hochjubeln. Nur ein Großer wie Marcel Reich-Ranicki kann uns davor noch bewahren.
Die Autorin ist Schriftstellerin und Journalistin.
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