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DDR-Aufstand vom 17. Juni 1953: Die Deutschen suchen ein neues Verhältnis zu sich selbst

Einst war der 17. Juni ein Pflichtdatum. 60 Jahre später besteht die Gefahr, dass das einstige Sorgenkind der politischen Pädagogiker überbewertet wird. Das neue Interesse der Medien lässt tief blicken.

Das Gedenken gilt der sechzigsten Wiederkehr eines denkwürdigen Tages. Aber die Jahreszahl lenkt auch die Aufmerksamkeit darauf, dass das Gedenken selbst ein Stück Geschichte der Bundesrepublik darstellt. Der 17. Juni 1953 bildet, unbestritten, ein gewichtiges Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte. Doch er konfrontiert uns auch mit Wegen und Umwegen, wofür seine jahrzehntelange Ritualisierung und seine Abschaffung als Feiertag stehen, aber auch seine erstaunliche Wiederauferstehung. Denn das einstige Pflichtdatum zieht heute Interesse und Anteilnahme auf sich.

Die Veränderung hat Züge eines Paradoxons. Denn der Wiedergewinn der staatlichen Einheit, der der Grund für die Degradierung des Feiertages war, leitete zugleich seinen Aufstieg im öffentlichen Bewusstsein ein. Nun erst konnte die historische Aufarbeitung beginnen, die eine Flut von Forschungen erbrachte – und die Erkenntnis, dass der Aufstand viel weiter reichte, als bis dahin bekannt war. Vor allem erneuerte das Erlebnis der erfolgreichen friedlichen Revolution die Erinnerung an den gescheiterten Aufstand.

Dazu gehörte nicht zuletzt die Auflösung eines Streitpunktes, der viele Jahrzehnte lang heftig an dem Tag zerrte: Die Frage, ob es sich beim 17. Juni 1953 um einen sozialen oder einen politischen, auf Demokratie und Einheit gerichteten Aufstand gehandelt habe. Im Herbst 1989 erlebte die Republik, was für das geteilte Deutschland zu bewirken dem 17. Juni versagt blieb: Die errungene Freiheit mündete in die staatliche Einheit, wie ein von Reglementierung befreiter Strom, der sich in das Flussbett ergießt, in dem er seit unvordenklicher Zeit seine Bahn zieht.

Gut ein Jahrzehnt später wurde der Aufstand gleichsam wieder entdeckt. Seither, seit dem medialen Run zu seinem Fünfzigjahr-Gedächtnis, scheint es, als stehe er uns näher als vorher. Nun besteht sogar die Gefahr, dass das einstige Sorgenkind der politischen Pädagogiker überbewertet wird. Denn der 17. Juni war, gewiss, ein ermutigendes Zeichen dafür, dass es Freiheitssinn und Zivilcourage auch in Deutschland gibt. Aber man überdeutet den Tag, wenn man ihn zum Beispiel zum Anfang von 1989 proklamiert. Er war ein großer Moment in der deutschen Geschichte, aber er machte kaum Geschichte. Man kommt nicht an dem Umstand vorbei, dass er in der Reihe der Erhebungen, die das kommunistische System erschütterten, nur eine kleine Rolle spielt; im Gedächtnis Ostmitteleuropas kommt er kaum vor. Dafür fehlte ihm der politisch-programmatische Vorlauf und eine geschichtsmächtige Form. Seine Botschaft besteht fast nur in dem Ereignis selbst, den Emotionen, die es auslöste, den Bildern, die es hinterlassen hat.

Gegenthese: Ist es nicht genug, dass an diesem Tag Deutsche den aufrechten Gang gewagt haben? Und stehen ihm die Deutschen heute offener und unverkrampfter gegenüber als früher? Der alte Umgang mit dem 17. Juni, seine geschichtspolitische Aufstellung als „Tag der deutschen Einheit“ musste immer auch die unheilbare Wunde verdecken, dass die Einheit unerreichbar schien und im Bewusstsein der Deutschen verblasste. Das neue Interesse an ihm erwächst aus dem Bedürfnis des vereinten Deutschlands nach einer Vergangenheit, die Beispiel und Orientierung gibt.

Geschichte, Erinnerung ist nicht nur das, was geschehen ist, was vorgefunden wird. Der historische Hintergrund unserer Existenz wird in einem Prozess der Auseinandersetzung und der Selbstbefragung immer neu gefunden, ja, erfunden, und die Gegenwart spielt dabei einen aktiven Part. Dass der Begriff der Erinnerungskultur sich fast penetrant in der öffentlichen Debatte festgesetzt hat, sagt vielleicht noch nicht viel. Immerhin drückt es die Bereitschaft und das Bedürfnis der heutigen Deutschen aus, auf ihre Vergangenheiten zuzugehen und sie sich anzuverwandeln. Nichts anderes signalisiert das Interesse, auf das der 17. Juni 1953 stößt: Mit ihm sind die Deutschen auf der Suche nach einem neuen Verhältnis zu sich selbst.

Hermann Rudolph

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