zum Hauptinhalt
Wechselhafte Wähler: Gerade die kleinen Parteien müssen mit rasch wechselnden Stimmungshochs und -tiefs leben.
© dapd

Kolumne: Die Demokratie auf dem Prüfstand

Das politische System in Deutschland muss mehr Parteien und weniger Wähler verkraften. Erleben wir das Ende einer Ära?

Es ist ja nicht nur Schleswig-Holstein! Wohin man nach diesem Wahlwochenende schaut – fast überall wird die Lage noch komplizierter. Selbst in Frankreich ist ja noch nicht ausgemacht, ob nicht die bevorstehenden Parlamentswahlen das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlagen lassen. Wegen der Vernetzungen sowohl im föderalistischen System Deutschlands als auch im präföderalistischen System Europas bleiben die Auswirkungen diffuser Wahlergebnisse nicht auf das jeweilige Wahlgebiet beschränkt. Was in Frankreich geschieht, betrifft auch die deutsche Kanzlerin. Und selbst Schleswig- Holstein bleibt nicht nur meerumschlungen.

Das Parteiensystem wird also fast überall komplexer und die Parteien werden immer flacher. Zudem: Immer weniger Wähler beteiligen sich noch an Wahlen. Selbst in Großbritannien mit seinem angeblich zuverlässig mehrheitsstiftenden Wahlrecht muss eine konservativ-liberale Koalition regieren, deren Partner in den jüngsten Kommunalwahlen abgestraft wurden, ohne sich wehren zu können. Mit anderen Worten: Mehr Parteien für immer weniger Wahlgänger – spricht dies nicht für einen Verlust an politischer Kohäsionskraft? Zerfasern nicht allmählich die Voraussetzungen für eine kraftvolle Politik in der westlichen Demokratie?

Man kann eben nicht auf Dauer beides zugleich haben – sowohl offene Gesellschaften als auch geschlossene Systeme. Stellen wir uns also ein auf eine historische Phase erhöhter Komplexität der Probleme, Pluralität der Parteien und Volatilität der Präferenzen der Wähler. Wir Deutschen haben uns zwar in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an relative westliche und absolute östliche Eindeutigkeiten gewöhnt. Nun ist es bei uns so konfus, wie es in Italien nach Don Camillo und Peppone, in Frankreich vor und nach Charles de Gaulle oder in Belgien und den Niederlanden schon immer war.

In dieser Epoche gibt es nur wenige Gewissheiten: Erstens wird es für Politiker immer schwieriger, sich Unterstützung zu sichern – schon wegen des Verblassens der Ideologien und des Zerfalls der Wählermilieus. Zweitens sind die Wähler immer weniger bereit, sich politisch von ihren Führungen in Anspruch nehmen zu lassen – man kann dies ihrer Emanzipation oder ihrer Verwöhntheit zuschreiben, in der man sogar Parteien lustig findet, die noch nicht mehr als lustig sind. Und drittens ist die Zeit vorbei, in der es auf scheinbar eindeutige Herausforderungen scheinbar eindeutige Antworten gibt.

Historisch gesehen haben die westliche Demokratien bisher recht bequem „funktioniert“, weil man den Kosten der eigenen und kollektiven Lebensführung ausweichen konnte – in die Inflation, in die Staatsverschuldung und in die Verlagerung des verbleibenden Drecks in Umwelt, Atmosphäre und Salzstöcke, also in die nicht bezahlte „Umverteilung“: eine Entschärfung gegenwärtiger Konflikte durch eine Verschärfung des Generationenkonflikts. Und nun geschieht etwas sehr Paradoxes: Die globalen Finanzmärkte entziehen dieser Schuldenwirtschaft Vertrauen und Kredit, auch im Interesse kommender Generationen. Und damit zwingen sie den nachlässig und leichtsinnig gewordenen Demokratien jene Disziplin auf, die sie aus eigener Kraft nicht aufzubringen vermochten. Ob sich die Demokratien nun konsolidieren oder ob sie korrodieren – das ist die große, leider offene Frage.

Zur Startseite