Armutsbericht: Deutschlands soziale Spaltung wird das Land zerreißen
Das Auseinanderfallen der Gesellschaft, wie es der Armuts- und Reichtumsbericht widerspiegelt, wird dieses Land zerreißen. Es kann das parlamentarische System in eine tiefe Krise stürzen. Wer für Mindestlöhne kämpft, ist kein Kommunist.
Nein, Deutschland liegt nicht in der sogenannten Dritten Welt, und auch nicht in einer der nun unabhängigen ehemaligen Sowjetrepubliken oder gar in Russland selbst – allesamt Beispiele für Länder mit extremen sozialen Ungleichgewichten, für den unvorstellbaren Reichtum einer kleinen Oberschicht hier und Mittellosigkeit und Armut der breiten Masse der Bevölkerung dort. Aber wer erste Zahlen aus dem Entwurf zum Vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung liest, wird nachdenklich. In der Bundesrepublik zeichnen sich Entwicklungen von großer Eigendynamik ab, die das Land in eine soziale Schieflage zu bringen drohen. Politik und Gesellschaft dürfen das nicht wie einen unabänderlichen Automatismus hinnehmen.
Das oberste Hundertstel der Haushalte besitzt 25 Prozent des gesamten Volksvermögens, die obersten zehn Prozent können sich mit der Hälfte des deutschen Gesamtvermögens gemütlich einrichten – aber auf 50 Prozent der Menschen in diesem Land entfällt gerade einmal ein einziges Prozent des Gesamtbesitzes. Im Beobachtungszeitraum von 1992 bis 2012, der diesen Zahlen zugrunde liegt, ging das Vermögen des Staates um 800 Milliarden zurück, auch deshalb, weil als Folge der Finanz- und Wirtschaftskrisen ab 2008 private Forderungen und Verbindlichkeiten in staatliche Bilanzen verschoben wurden.
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Wer je einen Beleg dafür suchte, in unserem Wirtschaftssystem würden Gewinne privatisiert, Verluste aber sozialisiert – da ist er. Und noch eine andere Zahl bestätigt den Eindruck vieler Menschen, der Wirtschaftsboom ginge an ihnen vorbei. In den zehn Jahren seit der Euroeinführung haben sich viele der alten DM- in Europreise verwandelt. Mit Ausnahme von Elektronik und Textilien aus Asien sind viele Produkte 2012 doppelt so teuer wie 2002 – aber welches Normalverdienereinkommen hat sich in diesem Jahrzehnt auch verdoppelt? Kaum eines, sagt der Armutsbericht, im Gegenteil, 40 Prozent der Vollzeitbeschäftigten müssen nach Abzug der Inflationsrate Verluste hinnehmen.
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Dieses Land war in Europa einmal mehr auf Gleichheit ausgerichtet als andere. In der DDR ohnedies, aber auch die alte Bundesrepublik hatte es ganz gut verstanden, im „rheinischen Kapitalismus“ den einen die Chance zum Reichtum zu geben, ohne die anderen arm zu machen. Die Hartz-Reformen 2005 mussten dann auch als Reflex auf eine globale Konkurrenz kommen, und um jene auf Trab zu bringen, die sich gemütlich im System eingerichtet hatten. Die gab es. Hätte Helmut Kohl zehn Jahre früher als Gerhard Schröder, in einer Phase solider Konjunktur, diese Maßnahmen gewagt, sie hätten besser gewirkt. Aber dass dann Teilzeit- und Minijobangebote missbraucht würden, um Vollzeitstellen zu kannibalisieren, stand nicht in Schröders Plan.
Das Auseinanderfallen der Gesellschaft, wie es der Armuts- und Reichtumsbericht widerspiegelt, wird dieses Land zerreißen. Es kann den fundamentalen Konsens zerstören und das parlamentarische System in eine tiefe Krise stürzen. Wer dagegen für Vermögenssteuern und höhere Spitzensteuersätze plädiert, ist kein verkleideter Kommunist. Wer für Mindestlöhne und gegen das Zerschlagen von Vollzeitstellen kämpft, attackiert damit nicht unsere Wirtschaftsordnung. Und wer an Artikel 14 des Grundgesetzes erinnert, in dem Eigentum nicht nur garantiert, sondern auch dessen Sozialbindung angemahnt wird, strebt keine klassenlose Gesellschaft an.
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