Gastbeitrag: Der Wille des Patienten geht vor
Mit der Patientenverfügung wurde der Wille von Menschen in medizinischer Behandlung gestärkt. Ein Gesetzentwurf zur Zwangsbehandlung psychisch Kranker fällt weit dahinter zurück. Der Fall Mollath zeigt, wie dramatisch das sein kann, meint unser Autor, Bundestagsabgeordneter der Linken.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat man Frauen mit Studienwunsch in Anstalten ruhiggestellt, später Homosexuelle. Gustl Mollath, dessen Fall in diesen Tagen öffentlich diskutiert wird, fand sich zu Beginn des
21. Jahrhunderts in der Psychiatrie wieder, weil man seine Angaben zum Schwarzgeldhandel einer Bank für wahnhaft hielt. Nun sieht es so aus, als habe der Mann recht.
Medizinische Behandlungen gegen den Willen eines Patienten zählen zu den schwierigsten Problemen der Ethik und der Rechtswissenschaft. Darf ein Arzt einen „einsichtsunfähigen“ Menschen gegen seinen erklärten Willen behandeln? Darf er es, wenn dieser Mensch aufgrund seiner psychischen Erkrankung so „einsichtsunfähig“ erscheint, dass man meint, ihn vor sich selbst schützen zu müssen?
Der richtige Ort, um diese schwierige Frage zu klären, ist in einer Demokratie das Parlament. Der Bundestag hat in einem ganz ähnlichen Zusammenhang schon einmal umfassend diskutiert. Nach dem Gesetz über die Patientenverfügung soll bei allen „Einsichtsunfähigen“ – unabhängig von der Art ihrer Erkrankung – allein der in der Patientenverfügung festgehaltene oder mutmaßliche Wille entscheidend sein. Um diesen Willen festzustellen, sind frühere Äußerungen des Betroffenen, ethische oder religiöse Überzeugungen und andere persönliche Wertvorstellungen heranzuziehen.
Der Bundestag hatte sich mit der Patientenverfügung viel Zeit gelassen. Am Ende stand ein durchdachtes Gesetz. In dessen Begründung heißt es: „Aus dem „verfassungsrechtlich geschützten Selbstbestimmungsrecht des Menschen folgt, dass weder die Krankheit noch der ärztliche Heilauftrag ein Behandlungsrecht des Arztes begründen.“ Maßgeblich sei der Wille des Patienten. Es käme nicht darauf an, ob „die Entscheidung eines Patienten aus medizinischer Sicht als vernünftig oder unvernünftig anzusehen ist“.
Der Unvernunft verwandt ist der Wahnsinn. In den psychiatrischen Anstalten der Bundesrepublik sind Tausende „einsichtsunfähige“ Menschen (und solche, die man dafür hält) untergebracht. Wenn sie sich selbst gefährden, bringt man sie in Ruheräume. Tritt keine Ruhe ein, werden ihnen Psychopharmaka mit häufig schweren Nebenwirkungen verabreicht. Wenn sie sich trotz guten Zuredens weigern, die Medikamente einzunehmen, wird Zwang angewandt. Der Bundesgerichtshof hatte im Juli 2012 hierfür eine ausdrückliche Rechtsgrundlage verlangt. Die fehlte bislang. Deswegen stellten die Regierungsfraktionen nun einen eilig zusammengeschriebenen Entwurf vor. Er soll den Ärzten den unsicher gewordenen Arm an der Beruhigungsspritze stützen.
Im Zentrum des Entwurfs steht aber nicht mehr der verfügte oder mutmaßliche Wille des Patienten, sondern der Wille des Betreuers. Dieser kann nach der Gesetzesvorlage den medizinischen Eingriff mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichts erteilen, wenn dem widersprechenden Betreuten „erheblicher gesundheitlicher Schaden“ droht und „der Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt“.
Diese Kriterien sind bevormundend und paternalistisch. Sie ignorieren das Selbstbestimmungsrecht und entwürdigen den Patienten zum Objekt. Genau das wollte das Patientenverfügungsgesetz verhindern – und zwar nicht nur für Komapatienten und Demenzkranke, sondern für die gesamte Gruppe der „Einsichtsunfähigen“.
Wenn der Patient seinen Willen aktuell nicht klar äußern kann, muss auf dessen ausdrückliche Verfügung oder seinen mutmaßlichen Willen zurückgegriffen werden. Wir brauchen kein neues Gesetz. Der Bundestag sollte lediglich klarstellen, dass das Patientenverfügungsgesetz auch in psychiatrischen Anstalten gilt. Hinzu kommt: So mancher, der sich in einer Anstalt gegen seine Behandlung sträubt, wehrt sich zu Recht.
Der Autor ist früherer Bundesrichter, sitzt für die Linken im Bundestag und ist Justiziar der Linken-Bundestagsfraktion
Wolfgang Neskovic