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Hamed Abdel-Samad.
© privat

Islamdebatte: Der Untergang des Morgenlandes

Thilo Sarrazin zufolge ist der Islam übermächtig und befindet sich auf dem Vormarsch. Das Gegenteil ist der Fall: Der Islam als Kultur steht vor dem Zusammenbruch.

Glaubt man Thilo Sarrazin, ist der Islam übermächtig und befindet sich auf dem Vormarsch. Die demografischen Entwicklungen in der islamischen Welt und in Europa sowie die blutigen Anschläge und schrillen Töne des fundamentalistischen Islam scheinen ihn zu bestätigen. Tatsächlich ist es jedoch so, dass sich die islamische Welt in die Defensive gedrängt fühlt und gegen die in ihrer Wahrnehmung aggressive Macht- und Wirtschaftspolitik des Westens heftig protestiert. Eine asymmetrische Kommunikation und eine wechselseitige Paranoia bestimmen die Beziehung von Ost und West seit Generationen.

Was den Islam betrifft, mag er meines Erachtens in seinem jetzigen Zustand alles Mögliche sein, nur eines ist er gewiss nicht: Er ist nicht mächtig. Er ist im Gegenteil schwer erkrankt und befindet sich sowohl kulturell als auch gesellschaftlich auf dem Rückzug. Er kann keine konstruktiven Antworten bieten auf die Fragen des 21. Jahrhunderts und verbarrikadiert sich deshalb hinter Wut und Beleidigung. Die religiös motivierte Gewalt, die zunehmende Islamisierung des öffentlichen Raums und das krampfhafte Beharren auf der Sichtbarkeit der islamischen Symbole sind lediglich nervöse Reaktionen dieses Rückzugs. Der Vormarsch des Islamismus ist bloß eine aufgeregte Mobilisierung. Es sind klare Zeichen des Mangels an Selbstbewusstsein und Handlungsoptionen. Es handelt sich um das verzweifelte Anstreichen eines Hauses, das kurz davor steht, in sich zusammenzustürzen. Aber auch der Zusammenbruch eines Hauses bleibt gefährlich – nicht nur für seine Bewohner.

In Ländern wie dem Iran und Ägypten gedeihen sowohl die radikalen Formen des Islam als auch die Bemühungen junger Menschen, sich von diesen Formen zu befreien. Die Fronten sind verhärtet und eine bittere Konfrontation ist unausweichlich. Der von Samuel Huntington beschworene Kampf der Kulturen ist längst Wirklichkeit geworden. Er findet nicht nur zwischen dem Islam und dem Westen statt, sondern auch innerhalb der islamischen Welt zwischen Individualisierung und Konformitätsdruck, zwischen Kontinuität und Innovation.

Eine politische Reform sowie eine Reform des Islam liegen jedoch in weiter Ferne, da die Bildungssysteme immer noch für Loyalität statt für freies Denken werben. Und die sogenannten Reformer des Islam trauen sich nach wie vor nicht an die elementaren Probleme der Kultur und der Religion heran. Reformdebatten werden zwar häufig angestoßen, aber nie zu Ende geführt. Kaum jemand fragt sich: „Gibt es möglicherweise einen Geburtsfehler in unserem Glauben?“ Kaum jemand traut sich, die Unantastbarkeit des Korans anzugreifen.

Wir leben weltweit in Zeiten des Umbruchs. Doch, was den Islam angeht, fürchte ich, kommt vor dem Umbruch erst ein Zusammenbruch. Besonders in der arabischen Welt sind sowohl die regionalen als auch die globalen Perspektiven ziemlich bedrohlich. Eine rapide wachsende, arme und unterdrückte Bevölkerung, rückständige Bildung, zur Neige gehende Erdölvorkommen und drastische klimatische Veränderungen, die große Anbauflächen verschlingen, bedrohen die wirtschaftliche Grundlage dieser Länder und verschärfen die vorhandenen regionalen und religiösen Konflikte. Dies kann dazu führen, dass der Staat zunehmend an Einfluss verliert, was zur Privatisierung der Gewalt führen könnte. Die Bürgerkriege in Afghanistan, Irak, Algerien, Pakistan, Somalia und im Sudan sind nur der Anfang davon. Die geistige und die materielle Erstarrung veranlasst mich zu der Prognose: Viele islamische Staaten werden zerfallen, der Islam wird als eine politische und gesellschaftliche Idee, er wird als Kultur untergehen. Die Vermutung liegt nahe, dass infolge dieses Zerfalls die größte Völkerwanderung der Geschichte entstehen wird. Und da werden wir erneut mit den Ängsten von Thilo Sarrazin konfrontiert.

- Der Autor veröffentlicht am Freitag sein Buch „Der Untergang der islamischen Welt. Eine Prognose“, Droemer, 240 S., 18 Euro.

Hamed Abdel-Samad

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