Diskussion um Beschneidung: Der Staat kann nicht seine Ideologie für alle durchsetzen
Solon Solomon ist Jurist und ehemaliges Mitglied der Rechtsabteilung des israelischen Parlaments Knesset. Er war dort zuständig für internationale und verfassungsrechtliche Fragen. Das Beschneidungs-Urteil des Kölner Landgerichts besorgt ihn. Er sieht die individuelle Freiheit in Gefahr.
Das vom Landgericht Köln kürzlich veröffentlichte Urteil über das Verbot der Beschneidung als "Körperverletzung" brachte wieder eine Debatte nach Deutschland, die in verschiedenen Formen nicht nur in Europa tobt, sondern auch auf der anderen Seite des Atlantiks. Um die Debatte in die richtigen Dimensionen zu rücken, ist es erstmal wichtig, zwischen Beschneidung als religiösem Ritual und Beschneidung aus medizinischen Gründen zu unterscheiden.
Die Beschneidung als eine bloße medizinische Prozedur ohne religiöse Merkmale verlässt die Sphäre des Göttlichen. So kann der Richter leichter auf sie reagieren. Damit erlangt die Frage eine irdische Dimension und wird diskutierbar. Es überrascht nicht, dass bei den meisten Fällen in der Vergangenheit Gerichte gegen die Beschneidung geurteilt haben, weil sie an Minderjährigen ohne ihre Zustimmung durchgeführt wurden.
Die Dinge werden kompliziert, sobald die Debatte in den religiösen Bereich eintritt. Nicht, weil das göttliche Element eine metaphysische Ebene in das Thema bringt, sondern weil sie die moderne verfassungsmäßige Ordnung anerkennt, dass eine Person ein Recht auf religiöse Freiheit hat. Dies beinhaltet das Recht einer Person, einer bestimmten Religion anzugehören oder aber nicht.
Das ist genau der Punkt. "Ein Minderjähriger kann eine solche Entscheidung nicht aus eigenem Antrieb treffen", argumentieren Befürworter des Beschneidungsverbots. Es sind die Eltern, die aus ihrer eigenen religiösen Überzeugung entscheiden, dass ihre Nachkommen beschnitten werden. Das Kind hat keine Wahlfreiheit.
Dieses Argument setzt voraus, dass Freiheit unbegrenzt und ohne Einfluss ist. Doch dies ist einfach nicht der Fall. Freiheit ist mehr als Freiheit der Wahl. Im Alltag treffen wir ständig Entscheidungen aus scheinbar freiem Willen. In der Tat sind sie aber durch genetische oder soziologische Faktoren vorbestimmt. Als Bürger sind wir aufgerufen, uns an Gesetze, die andere erlassen haben, zu halten. In diesem Sinne sind wir sozial Minderjährige.
So wurde der Faschismus geboren
Das Gesetz erkennt dies an und pflichtet dem bei. Verfassungen fordern die Bürger dazu auf, allen Versuchen sie abzuschaffen, zu widerstehen. Darüber hinaus bestätigen nationale und internationale Texte die Tatsache, dass das Bildungssystem dazu da ist, die religiöse Persönlichkeit eines Minderjährigen nach der religiösen Überzeugung der Eltern zu prägen.
Diese religiösen Überzeugungen sollten natürlich nicht gegen die öffentliche Ordnung verstoßen. Doch im Fall der Beschneidungsdebatte sollten diese Parameter der öffentlichen Ordnung als solche definiert werden, die darauf aus sind, das Recht auf Leben oder das Wesen der menschlichen Natur zu vernichten. Das beinhaltet zum Beispiel Amputationen oder Totschlag. Doch entzieht sich die Beschneidung dieser Diskussion, weil die Entfernung der Vorhaut nicht in der Absicht getätigt wird, ein bestimmtes Organ zu entfernen.
Letztlich dienen die Aufrufe zum Beschneidungsverbot nicht libertären Zwecken sondern sie schaden ihnen. Sie schützen die mutmaßliche Freiheit der Minderjährigen, dabei ist zu bezweifeln, ob derartige Schutzmaßnahmen im Rahmen der bestehenden Rechtsordnung überhaupt erforderlich sind. Gleichzeitig unterdrücken sie den freien Willen der Eltern, der zweifelsohne geschützt werden muss.
Die ersten Verfassungsdokumente entstanden in dem Bewusstsein, dass das Recht des Einzelnen vor dem Zugriff des Staates durch bürgerliche und politische Rechte geschützt werden soll. In den Fällen, in denen der Staat versucht hat, seine eigenen ideologischen Vorstellungen für alle Bürger durchzusetzen, auch wenn sie von Vielen geteilt werden, wurde der Faschismus geboren. Dies sollte jeden denkenden Bürger besorgt machen.
Wie erwartet, hat der Sprecher der Knesset, Reuven Rivlin, bereits seinen deutschen Amtskollegen Norbert Lammert gebeten, das Problem durch eine Gesetzgebung im Bundestag zu lösen.
Allerdings könnte eine solche gesetzliche Regelung als verfassungswidrig eingestuft werden. Als solche ist die Frage nicht nur politisch. Sie ist auch nicht nur ein Fall für die Justiz, die entscheidet, wessen Recht schwerer wiegt. Vielmehr ist es eine Diskussion darüber, was genau die Beschneidungs-Initiative verbieten will. Ebenfalls geht es um die Frage, ob westliche Werte der Menschenrechte auch für andere gelten sollten. Diese beiden Punkte sind zutiefst sozial.
Solon Solomon
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