NSU-Prozess / Islam-Konferenz: Der Rassismus sitzt in den Tapeten der Gesellschaft
In der kommenden Woche tagt die Deutsche Islam-Konferenz zum letzten Mal in dieser Legislaturperiode. Der NSU-Prozess überlagert das Ereignis, könnte die Debatte um Integration und Rassismus aber auch endlich weiten.
Ja, es war eine Dauerfarce, die das Münchner Oberlandesgericht seit Wochen um die Platzvergabe im NSU-Prozess inszenierte. Dass Zeitungen die Leidtragenden sind, die wir üblicherweise als „große“ bezeichnen, lenkt allerdings von einem wesentlichen Punkt ab: Nicht, wen die Spielregeln benachteiligt haben, ist skandalös, sondern es sind diese Spielregeln selbst. Erst setzte das Gericht aufs Windhundverfahren, die Schnellsten gewinnen, dann nahm man sich an der Ziehung der Lottozahlen ein Beispiel. Beides stammt aus dem Unterhaltungsprogramm und ist damit das Unpassendste, was diesem wichtigen Prozess geschehen konnte. Nach einer Serie rassistischer Verbrechen, die in der deutschen Nachkriegsgeschichte beispiellos ist, demonstriert die Justiz durch die Platzvergabe und durch die viel zu geringe Zahl der Plätze, welches öffentliche Interesse als angemessen angesehen wird. Ganz gleich, welche guten, internen Gründe es dafür geben mag: Die Weigerung, das Verfahren in einen größeren Saal zu verlegen, dann eben keinen in einem Justizgebäude, sendet eine Botschaft: Habt euch nicht so, das ist hier der normale Geschäftsgang. Wir tun, was wir immer tun.
Dass dies kein normales Verfahren ist, ist derart offensichtlich, dass man sich fragen muss, warum im Vorfeld so viel Wert darauf gelegt wird, das Gegenteil zu beweisen. Womöglich, weil die, die in München entscheiden, einfach nicht anders denken als jenes Volk, in dessen Namen sie urteilen werden? Die Opfer der Mordserie waren, bis auf die Polizistin Michèle Kiesewetter, Migranten. Menschen wie sie machen inzwischen ein Fünftel der deutschen Bevölkerung aus, in der öffentlichen Diskussion aber tauchen sie praktisch immer als Problemgruppe auf. Wo einmal von der ghanaischen Ingenieurin oder dem türkischen Änderungsschneider mit ordentlichem Einkommen und wohlgeratenen Kindern die Rede ist, klebt ihnen, ausgesprochen oder stillschweigend, ein „ausnahmsweise“ an. Die Mordserie des NSU aber hat drastisch vor Augen geführt, dass nicht sie es sind, die Probleme machen, jedenfalls nicht als Gruppe, sondern dass sie Probleme haben, und zwar durchaus als Gruppe, unabhängig von Schulabschluss, Einkommen, Lebensstil, einfach dadurch, dass mal ihr Akzent, mal ihre dunklere Haut oder ein nichteuropäischer Name sie zu „anderen“ macht. Ihre Probleme heißen Vorurteile, Misstrauen, Ablehnung – oder auch tödlicher Hass. Der NSU ist nicht allein: 152 Menschenleben hat rechtsextreme Gewalt seit der Wiedervereinigung vernichtet; unser Tagesspiegel-Kollege Frank Jansen recherchiert die Taten seit Jahren. Viele derer, denen die Mörder und Totschläger das Recht auf Leben absprechen, waren Obdachlose, Punks, Linke. Und auffallend viele von ihnen wurden auch einfach umgebracht, weil sie nicht Müller, Meier oder Schmitt hießen. Und es spricht eine eigene Sprache, wie oft die Behörden, Polizei und Regierung die Augen vor diesem rassistischen Hintergrund verschließen: Nicht einmal die Hälfte der 152 sind auch amtlich als Opfer von Rechtsextremen anerkannt.
Der Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung hat soeben wieder belegt, wie stark diese Ablehnung indes ist: Obwohl eine Mehrheit religiöse Vielfalt begrüßt, halten 51 Prozent den Islam für eine Bedrohung. „Muslim“ darf dabei mit gutem Recht als Chiffre genommen werden. Die Begriffe sind austauschbar und scheinen nur insofern variiert zu werden, als gebürtige Berliner oder Stuttgarter der zweiten und dritten Generation nicht mehr gut als „Ausländer“ oder „Türken“ durchgehen können und Religion in einer weitgehend säkularen Umwelt eine ausreichend starke Negativmarkierung ist, um sie von dem auszuschließen, was als gute Gesellschaft gilt.
Diese Markierungen sind in den letzten Jahren stärker geworden. Schuld daran oder mindestens mitschuldig ist, paradox genug, jene Integrationsdebatte, die ebenso nötig war wie der Modernisierungsprozess, aus dem sie entstand. Um nur zwei Stichworte zu nennen: Natürlich muss eine Demokratie das Staatsangehörigkeitsrecht reformieren, wenn sie Gefahr läuft, einen wachsenden Teil ihrer Bevölkerung von politischer Teilhabe auszuschließen, weil er kein Wahlrecht hat. Und selbstverständlich gehört die Schule umgebaut, wenn die Zahl der Schüler einerseits schrumpft, die Kinder aber immer seltener in die hergebrachten Erwartungen von Schule passen, und zwar nicht nur die, deren Eltern von weit her kommen, sondern auch die, deren Familien seit vielen Generationen deutsch sind, die ihnen aber aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr jene Erziehung und Nachhilfe mitgeben können, auf die die deutsche Schule im Großen und Ganzen immer baute. Die gelegentlich belächelte Formel „Kein Kind darf zurückbleiben“ lässt sich ja nicht nur als Wahlkampfversprechen an Familien lesen, sondern auch als Antwort, eine von mehreren, auf den Fachkräftemangel. Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung und Ausbildung, ein Menschenrecht. Aber eine alternde Gesellschaft kann auch auf die Fähigkeiten und die Arbeit keines jener Erwachsenen verzichten, die diese Kinder einmal sein werden.
Über all das, demokratische Notwendigkeiten und wirtschaftliche, eine Gesellschaft im Wandel und das, was sie tun sollte, um diesen Wandel zu bewältigen, muss debattiert werden. Das öffentliche Miteinanderverhandeln darüber überwindet alten Konsens und schafft neuen, auch weit außerhalb der Parlamente. Wer hätte gedacht, dass nur wenige Jahre, nachdem der SPD-Kanzler Gerhard Schröder die Frauen- und Familienpolitik als „Gedöns“ bezeichnet hatte, die CDU von einem halben Aufstand zugunsten der Quote in den eigenen Reihen erschüttert würde, für Aufsichtsräte wohlgemerkt? Und dass die Behauptung „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ innerhalb weniger Jahre ins Museum entsorgt werden könnte, mit der Hilfe aller politischer Lager?
Wie die Islam-Konferenz zum Gesinnungs-Tüv mutierte - und warum sie dennoch wichtig war
Nur: Fortschrittsdebatten kennen paradoxerweise auch den Schritt zurück. Das öffentliche Dauerreden über die Buntheit der Gesellschaft hat in den letzten Jahren immer wieder Gruppen konstruiert, die es gar nicht gibt. Wir sprechen über „die Muslime“, doch was sagt das über Menschen aus Fleisch und Blut? Die sind auch Mütter, Väter oder Singles, Arbeitslose oder Gutverdiener, Professorinnen oder Handwerker, ja sie sind nicht einmal alle religiös. Prägen Beruf, Familie und wirtschaftlicher Status weniger als der Glaube? Das Etikett „Muslim“ sagt wenig über die Menschen aus, denen es aufgeklebt wird. Gleichzeitig kann es die konkreten Menschen dahinter, ihre Charaktere und Fähigkeiten, zum Verschwinden bringen und seine oder ihre Lebenschancen empfindlich beschränken: die Möglichkeit zu arbeiten, Freunde zu finden, anerkannt zu werden, „das Streben nach Glück“, wie es die amerikanische Unabhängigkeitserklärung so wunderbar nennt. Wenn 51 Prozent der deutschen Bevölkerung den Islam als bedrohlich ansehen, dann heißt das für die Muslime nichts Gutes. Die Folgen haben die UN gerade im Fall Sarrazin wieder festgestellt. Hier mischten sich, wie so oft, Antimuslimisches und Antitürkisches. Sarrazins Äußerungen im „Lettre“-Interview, das seinem Bucherfolg vorausging, heißt es in der Entscheidung des UN-Antirassismus-Ausschusses von Anfang April, „enthalten Gedanken rassischer Überlegenheit, versagen den Respekt vor Menschen“ und enthielten einen „Aufruf zur Rassendiskriminierung“. Deutschlands Institutionen, rügte der Ausschuss, die Justiz zum Beispiel, die die Klage gegen Sarrazin abwies, böten davor nicht ausreichend Schutz.
Warum das so ist, darauf haben die UN schon früher hingewiesen: Zu einseitig werde hierzulande Rassismus auf Antisemitismus reduziert. Das mache blind für andere Erscheinungsformen. Rassismus, das ist ein Wort, das in Deutschland heftigste Abwehr auslöst. Das mag daran liegen, dass die nationalsozialistische Vergangenheit und der Stolz auf ihre „Bewältigung“ empfindlich macht. Aber es liegt auch an einem Mangel an Nüchternheit: Wer immer „Rassismus“ hört, hört den Vorwurf gegen sich selbst mit: „Du Rassist.“
Als ob es darum ginge. Dafür gibt es zu viele Rassisten, selbst unter denen, die selbst diskriminiert und gehasst werden. Selbst unter erklärten Antirassisten. Womöglich sind Menschen ohne Vorurteile sogar ein verschwindend kleiner Teil der Menschheit. Statt mit dem Finger auf einzelne zu zeigen, muss es gegen das gehen, wofür sich der Begriff „struktureller Rassismus“ eingebürgert hat, also den, der in Behörden, Gesetzen, Institutionen, sozusagen in den Tapeten einer Gesellschaft sitzt. Das kann der mangelnde juristische Schutz gegen Hetzer sein, den die UN gerügt haben, aber auch zu wenige Migranten in Polizeiuniform, hinter Behördenschaltern und auch in Zeitungsredaktionen, weil es den Bürgerinnen, Lesern, den alteingesessenen wie den eingewanderten, signalisiert, mit denen, den „anderen“, sei eben kein Staat zu machen.
Dass das nicht stimmt, beweist die Deutsche Islam-Konferenz, die in dieser Woche zum letzten Mal in dieser Legislaturperiode tagt. Vor sieben Jahren eingesetzt, litt sie von Anfang an darunter, dass eine auf Sicherheitspolitik fixierte Bürokratie ihr die Tagesordnungen schrieb, dass der Gesinnungs-Tüv (wie haltet ihr’s mit Gewalt, Frauenrechten, Moderne) Religionspolitik ersetzen sollte. Nicht zuletzt war sie eine Bundeseinrichtung, die meisten Religionsangelegenheiten aber sind Ländersache. Die Konferenz mache in dieser Form keinen Sinn mehr, resümierten folglich am Wochenende gleich zwei Verbände, der Verband Islamischer Kulturzentren und die weltlich orientierte Türkische Gemeinde in Deutschland.
Dennoch hat die Islam-Konferenz zur Emanzipation der deutschen Muslime beigetragen, sie hat islamischer Theologie an staatlichen Universitäten den Weg geebnet, Vereinbarungen zum Religionsunterricht beschleunigt. Sie hat auch wesentlich geholfen, dass sich die Repräsentanten des deutschen Islams als Mitspieler in der demokratischen Öffentlichkeit etablierten. So konnten sie die obrigkeitliche Agenda der Konferenz selbst korrigieren, die bis dahin vom Verdacht gegen Muslime beherrscht wurde. Das Thema Terrorabwehr ist inzwischen ausgelagert, über Muslimfeindlichkeit wird jetzt gesprochen. Ob der Islam zu Deutschland gehört – sieben Jahre Islamkonferenz unter Leitung des Bundesinnenministeriums geben darauf eine klare Antwort.
Es ist also möglich, die alten Tapeten abzureißen. Der NSU-Prozess wäre eine gute Gelegenheit, sich nach ihnen umzuschauen. Nach der Entdeckung der Morde wurde schließlich nicht nur nach einzelnen Rassisten gefragt, den mutmaßlichen Tätern, sondern nach Strukturen: Warum liefen die Ermittlungen falsch? Warum spielten das Wissen und die Hinweise der Ehefrauen, Söhne, Töchter und Freunde der Toten praktisch keine Rolle, obwohl sie immer wieder Fremdenhass als Motiv vermuteten und das auch sagten? Und warum haben die, die die „Dönermord“-Schlagzeilen verfassten oder sie lasen, also praktisch wir alle, den immer gleichen offiziellen Versionen vom kriminellen Hintergrund, von Schulden und Rotlichtmilieu so wenig oder gar nicht misstraut?
Alles Fragen, die der Prozess in München nicht beantworten kann, nicht einmal darf. Er muss individuelle Schuld zuordnen. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Aufarbeitung nicht auf diesen Prozess beschränkt, dass nicht das Gesicht von Beate Zschäpe zu einem Piktogramm wird, das glauben macht, alles sei getan, wenn sie und ihre vier mutmaßlichen Helfer nur erst abgeurteilt sind.
Es wird Zeit, dass Deutschland anfängt, Diskriminierung ganz oben auf die Agenda zu setzen und die schal gewordene Integrationsdebatte durch eine über Rassismus ablöst. Nicht, indem Einzelne an den Pranger gestellt werden, sondern indem diskriminierende Praktiken und Routinen im Alltag thematisiert werden. Für alle, denen das R-Wort Gänsehaut macht: Es geht schlicht darum, einen Text immer wieder neu mit Leben zu füllen, der in diesem Monat 64 Jahre alt wird. Es ist das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in dem es heißt: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“
Andrea Dernbach