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Die geplante Änderung der Geschäftsordnung des Bundestags mit einer Regelung des Rederechts einzelner Abgeordneter hat einen Proteststurm quer durch die Fraktionen ausgelöst.
© dpa

Rederecht im Bundestag: Der Maulkorb gehört nicht ins Parlament

Wenn der Bundestag Ort der offenen Auseinandersetzung bleiben soll, dürfen den Abgeordneten keine Ermächtigungs- und Unterwerfungsregeln abverlangt werden. Daher ist es gut und richtig, dass der geplante Maulkorb vom Tisch ist.

Nein, die Demokratie war nicht in Gefahr. Aber die Sorge, eine Mehrheit des Deutschen Bundestages könnte sich in einem Akt rätselhafter Kasteiung entmächtigen, die bestand zu Recht. Dass es nicht dazu kam, ist einem Aufschrei selbstbewusster Abgeordneter und der fast einhelligen Empörung in der Presse dieses Landes zu danken. Das ist keine Beweihräucherung ob vermeintlicher Verdienste, sondern Erinnerung daran, dass Demokratie ein mühsames Geschäft ist. Nicht so bequem handhabbar, wie es die Durchregierer gerne hätten, nicht so effizient, wie es in vermeintlich alternativlosen Situationen wünschenswert scheint, dafür aber mit dem unbestreitbaren Vorzug ausgestattet, dass auch Minderheiten gehört werden müssen, und dies nicht erst dann, wenn nichts mehr zu ändern ist.

Es geht um eine Neuregelung des Rederechtes im Bundestag, über die jetzt noch einmal neu nachgedacht werden soll. Dessen Überarbeitung war nach Meinung der Fraktionsspitzen von CDU, CSU, SPD und FDP notwendig geworden, weil Bundestagspräsident Norbert Lammert am 29. September 2011 dem CDU-Abgeordneten Klaus-Peter Willsch und seinem liberalen Kollegen Frank Schäffler in der Debatte über die Eurorettung noch vor der Abstimmung ein Rederecht eingeräumt hatte, obwohl beide von den jeweiligen Fraktionsführungen nicht auf die Rednerliste gesetzt worden waren.

Da habe der Präsident selbstherrlich entschieden, rügte der Ältestenrat. Beide Parlamentarier hätten gemäß bisheriger Übung nach beendeter Abstimmung ihre Minderheitsvoten artikulieren oder während der Debatte vom Recht auf eine dreiminütige Kurzintervention Gebrauch machen können. Um künftig vermeintlich zu selbstherrliche Entscheidungen des amtierenden Präsidenten zu verhindern, müsse die Geschäftsordnung des Hohen Hauses dahingehend geändert werden, dass der Präsident Rederecht an einzelne Abgeordnete nur „im Benehmen“ mit den Fraktionsführungen erteilen dürfe, fordern diese. Triebfeder bei der Verschlimmbesserung geltenden Rechts war der durch die Eigenmächtigkeit frustrierte Unionsfraktionsvorsitzende Volker Kauder. Sozialdemokrat Frank Walter Steinmeier und Jörg van Essen von der FDP schlossen sich der christdemokratischen Lust an der Reglementierung an.

Nun heißt „im Benehmen“, dass man sein Vorgehen mit dem anderen abstimmt. Der Parlamentspräsident hätte also um Erlaubnis fragen müssen, ob er jemanden reden lässt. Das fand nicht nur Lammert unglaublich. Und die vermeintlich so hilfreiche Kurzintervention? Wie wäre die wohl ausgefallen? Hätte etwa CDU-Mann Willsch einen Parteifreund während dessen Rede um das Recht zu einer Zwischenfrage bitten müssen, um ihm dann zu widersprechen? Und erst nach der Abstimmung sein „dissenting vote“, seine abweichende Meinung, zu artikulieren, hätte ja nichts mehr gebracht.

Wenn man denn der Meinung ist, dass bei großen Themen – und gehörte der Eurorettungsschirm nicht dazu? – erst die Plenardebatte zur Entscheidung in der Sache führt und man ihr nicht die Rolle eines Theaterstücks zuweist, bei dem das Ende vorhersehbar ist, weil jeder seine Rolle kennt und aus ihr nicht ausbricht, muss das freie Rederecht gestärkt werden. Es gibt in der jüngeren Parlamentsgeschichte ein besonders beeindruckendes Beispiel dafür, wie eine einzige, aufrüttelnde Rede vermeintlich klare Mehrheiten kippen lassen kann. Das war der Beitrag Wolfgang Schäubles am 20. Juni 1991 bei der Debatte über den künftigen Hauptstadtsitz, durch den sich die Waage von Bonn zu Berlin neigte.

Wer nun argumentiert, ein großzügigeres Rederecht für Abweichler öffne dem Filibustern Tür und Tor, mache den Weg für Wichtigtuer frei und den Ablauf von parlamentarischen Entscheidungsprozessen unkalkulierbar, sucht nach Ausreden. Das alles lässt sich regeln. Aber wenn der Bundestag Ort der offenen Auseinandersetzung bleiben soll, dürfen den Abgeordneten keine Ermächtigungs- und Unterwerfungsregeln abverlangt werden. Das Präsidium muss von Fraktionszwängen frei sein. Der Maulkorb gehört nichts ins Parlament, sondern allenfalls zu den Hunden auf dem Platz davor.

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