Demokratie in der Debatte: Das Volk und die Eliten
Illiberale Demokratien wie in Ungarn, heißt es, sind gar keine Demokratien. Zugleich ist der Liberalismus undemokratisch geworden. Ein Vorabdruck..
Philipp Manow, Jahrgang 1963, lehrt Politikwissenschaft an der Universität Bremen. Der nachfolgende Essay ist ein Vorabdruck aus seinem in den nächsten Tagen in der Edition Suhrkamp erscheinenden Buch „(Ent-)Demokratisierung der Demokratie“ (160 Seiten, 16 €).
Wir leben in Zeiten, in der die Demokratie sich in der Krise befindet. Das ist zumindest eine weitgeteilte Einschätzung, die in Buchtiteln wie „Wie Demokratien sterben“ oder „Wie die Demokratie endet“ ihren Niederschlag findet. Ich denke allerdings, dass wir es zunächst eigentlich mit einer Krise demokratischer Repräsentation, nicht aber mit einer Krise der Demokratie zu tun haben.
Ganz im Gegenteil: Die Krise der Repräsentation kann man als eine Konsequenz der massiven Ausweitung politischer Partizipationschancen verstehen, die wir momentan erleben, also als eine Folge dessen, dass die Demokratie eigentlich „demokratischer“ geworden ist, dass sie sich demokratisiert hat – wodurch traditionelle Vermittlungsinstanzen, Parteien, Parlamente, die Presse, ihre politischen Aggregierungs-, Moderierungs- und Kanalisierungsfunktionen immer weniger erfüllen können.
Der allgemeinen Krisendiagnose steht zunächst entgegen, dass die Demokratie als Legitimationsprinzip unumstrittener denn je scheint. Ihre institutionelle Umsetzung ist heute in vielen Ländern umfassender gewährleistet als jemals zuvor.
Die Unterdrückung der Opposition, die Einschränkung des aktiven wie passiven Wahlrechts nach Einkommen, Steuerzahlung, Lesevermögen, Geschlecht, Hautfarbe, Beruf oder anderen Kriterien, indirekte und/oder nichtgeheime oder sonst wie manipulierte Wahlen, nichtgewählte Zweite Kammern mit Vetomöglichkeiten gegenüber der Ersten, Monarchen oder Militärräte mit politischen Mitspracherechten etc.: Die zahlreichen praktischen und institutionellen Einschränkungen, gegen die das demokratische Gleichheitsprinzip seit mehr als 200 Jahren zu kämpfen hat, sind in vielen Ländern Schritt für Schritt abgebaut worden.
Und selbst Autokratien – ob das Putins Russland ist, die iranische Theokratie oder Erdogans Türkei – haben Schwierigkeiten, die Abhaltung von Wahlen zu vermeiden oder das Ergebnis von Wahlen zu ignorieren bzw. zu annullieren: „Die prinzipielle Ablehnung von Wahlen ist zur reinen Minderheitenposition geworden.“ (John Dunn)
Einmal gewährt, entwickeln demokratische Freiheiten zudem ein extrem hohes Suchtpotenzial – wie sich aktuell etwa an der enormen Erbitterung zeigt, mit der Hongkongs Bürger ihre politischen Rechte gegen die ausgreifende Unterdrückungsmaschinerie Chinas verteidigen. Das alles spricht also nicht unbedingt für eine Krise der Demokratie – weder als grundlegendes Legitimationsprinzip noch als etablierte Praxis und institutionelles Arrangement gesellschaftlicher Ordnung.
Noch vor kurzem lautete die allgemein getroffene Einschätzung, dass es nun weltweit keine legitime Alternative zur Demokratie als politischer Herrschaftsform mehr gäbe. Francis Fukuyama verkündete das Ende der Geschichte, weil sich ökonomischer wie politischer Liberalismus, und das meinte eben die westliche Demokratie, als „alternativlos“ durchgesetzt hatten. Diese Sicht hat sich ja nicht plötzlich, wie über Nacht, als völlig falsch erwiesen.
Es ist aber andererseits nicht zu übersehen, dass sich Befunde eines backsliding und einer democratic recession häufen, uns in wachsender Zahl Berichte über die zunehmende Einschränkung demokratischer Freiheitsrechte und über den Rückfall in autoritäre Verhältnisse und politische Repression erreichen: Polen, Ungarn, die Türkei, die Philippinen unter Duterte, Brasilien unter Bolsonaro, Venezuela unter Maduro, Indien unter Modi, die USA unter Trump etc. Es sind vor allem diese beunruhigenden Nachrichten, die sich zum generellen Eindruck einer aktuellen Gefährdung der Demokratie verdichtet haben.
Der aktuelle Bericht der Nichtregierungsorganisation Freedom House konstatiert: „Die Demokratie ist auf dem Rückzug“ (übrigens ohne, dass die von Freedom House in der Studie selbst präsentierten Daten einen solchen Befund vollständig stützen würden).
Bei näherer Betrachtung steht aber im Zentrum dieser Entwicklungen ein paradoxer Befund, nämlich der, dass der Demokratie vor allem von der Demokratie Gefahr zu drohen scheint, weil sie immer häufiger „im Namen der Demokratie“ angegriffen wird. Denn auch wenn die neuen populistischen Bewegungen und die neuen populistischen Führerfiguren vieles infrage stellen – die Demokratie nun meistens gerade nicht.
Ganz im Gegenteil: Sie geben vor, in ihrem Namen anzutreten, sie vor autistischen liberalen Eliten retten zu wollen, die gegenüber denjenigen, deren Interessen sie eigentlich zu repräsentieren hätten, ja sowieso nur noch Verachtung hegen.
Tatsächlich war es ja genau dieses demokratische Bekenntnis der Populisten, das den niederländischen Politikwissenschaftler Cas Mudde dazu bewog, die neuen rechtspopulistischen Parteien in einem einflussreichen Beitrag von den alten rechtsextremen, neofaschistischen Anti-System-Parteien abzugrenzen, die es natürlich immer gegeben hat und die es vermutlich immer geben wird.
Dasselbe trifft für den Linkspopulismus zu, der ja auch – anders als die orthodoxe Linke früher – mehrheitlich keine Diktatur des Proletariats mehr errichten will, sondern sich vielmehr die grundsätzliche Korrektur eines, aus seiner Sicht, plutokratisch verfälschten Systems zum Ziel genommen hat, der vielleicht die Abschaffung des Kapitalismus befürwortet, aber eben nicht die Abschaffung der Demokratie.
Diese Referenz der Populisten auf eine angeblich „wahre“ und momentan nur „vom politischen Establishment“ verfälschte Demokratie ist also ein zentraler Teil der Definition dessen, um was es geht. Cas Mudde schreibt: Es ist bemerkenswert, dass im frühen 20. Jahrhundert Nationalismus und Sozialismus Erscheinungsformen eines antidemokratischen Extremismus waren, während zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Populisten zumeist demokratisch, aber antiliberal sind.
Daran zeigt sich zumindest, dass die Demokratie (Volkssouveränität und das Mehrheitsprinzip) nun hegemonial ist, während das für die liberale Demokratie – die Minderheitenschutz, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung hinzufügt – nicht gilt.
Die neuen populistischen Parteien sind sicherlich antiinstitutionell, im Regelfall Gegner der repräsentativen Demokratie, sie sind aber eben nicht antidemokratisch – beziehungsweise müssten diejenigen, die ein solches Urteil fällen, sehr viel präziser angeben, wo und wie genau der beständige Appell an die Volkssouveränität eigentlich ins Antidemokratische kippt. Nicht zuletzt wird man dem Umstand Rechnung tragen müssen, dass die Populisten gewählt und sogar auch häufig wiedergewählt werden.
Dabei lässt sich kaum überzeugend argumentieren, hier handele es sich jeweils um demokratische Mehrheiten, die den Auftrag zur Abschaffung der Demokratie erteilt hätten – also um Selbstentmündigungsmehrheiten. In der letzten Welle des World Value Survey (2010-2014) geben in den USA 80 Prozent der befragten US-Amerikaner an, es sei „gut“ oder „sehr gut“, ein demokratisches System zu haben, 17 Prozent halten das für „schlecht“ oder „sehr schlecht“. Wie wollte man da die 46,1 Prozent der Stimmen, die Trump 2016 erhielt, als Mandat für die Zerstörung der Demokratie verstehen?
Zugegeben: Das Argument, eine „illiberale Demokratie“ (Viktor Orbán) sei überhaupt keine Demokratie, ist sehr überzeugend. Aber das Argument, dass der Liberalismus in vielen seiner heutigen Ausprägungen undemokratisch geworden ist, ist es nicht weniger. Wir müssen beides betrachten, sowohl „dass gewisse vermeintlich demokratische Kräfte die Rechtsstaatlichkeit untergraben“, wie auch dass „gleichzeitig gewisse vermeintlich liberale Kräfte die Volkssouveränität aushöhlen“ (Shany Mor).
Beide Entwicklungen müssen in den Blick genommen werden, nicht aus Gründen irgendeiner Ausgewogenheit, sondern weil sie offensichtlich unabhängig voneinander nicht zu verstehen sind. Denn es scheint plausibel, im Populismus „im Wesentlichen eine illiberale demokratische Antwort auf undemokratischen Liberalismus“ zu sehen (Cas Mudde und Cristobal Rovira Kaltwasser, mit übereinstimmender Diagnose etwa Yascha Mounk).
Es ist kein Relativismus, kein irregeleiteter bothsidesism, wenn man konzediert, dass jeweils ein tatsächliches Demokratieproblem angesprochen ist. Die Lager zeigen – mit einer gewissen Berechtigung – auf die Fehlentwicklungen der Gegenseite, um ihre eigene Agenda zu legitimieren: „Demokratur“ à la Orbán auf der einen versus postpolitische Juristokratie à la Brüssel auf der anderen Seite.
Aber selbst wenn der gegenwärtige Konflikt vor dem Hintergrund des bekannten Spannungsverhältnisses zwischen Liberalismus und Volkssouveränität interpretiert und nicht einfach nur als Konflikt zwischen Demokraten und Antidemokraten simplifiziert wird, bliebe zu klären, wie dieses ja nun nicht neue Spannungsverhältnis sich zuletzt in einen so fundamentalen Konflikt verwandeln konnte. Hier setzt die Demokratisierungsthese an: Sie behauptet, dass die Krise der Repräsentation eine andere, instabilere Form von Demokratie freisetzt.
Das ist eine Frage, die sich für die Demokratie seit 1789 immer wieder gestellt hat und die immer nur temporär beantwortet werden konnte: ob und wie die demokratische Revolution die von ihr ausgelöste politische Dynamik wieder einzufangen vermag. Repräsentation war eine solche Einhegung, sie selbst ist aber eine „labile Formel“, die mal eher „oligarchisch“, mal eher „populär“ ausformuliert werden kann (Marcel Gauchet).
Das Verhältnis von Volkssouveränität und Liberalismus ist daher abhängig von unterschiedlichen Hitzegraden des Politischen aufgrund des unterschiedlichen Ausmaßes seiner institutionellen Zähmung.
Repräsentation als Prinzip bedarf einer Repräsentation als Praxis – und die ist offenkundig heute in der Krise. Einerseits scheint ein vehementer demokratischer Impuls gegen die zunehmende Substitution von Politik durch Recht aufzubegehren, dagegen, dass eine Rhetorik der Rechte bestimmte gesellschaftliche Interessen von den Unwägbarkeiten der Demokratie zunehmend abzuschirmen sucht.
Diese zunehmende Substitution ist zugleich selber ein wichtiger Grund für die Entwertung kollektiver Organisationsformen des Politischen, also von Parteien und Parlamenten. Andererseits ist der Bedeutungsgewinn des Rechts wohl auch gerade als Versuch zur Eindämmung einer demokratischeren Demokratie zu verstehen.
Ein Unterschied zu gängigen Deutungen der gegenwärtigen Lage würde darin liegen, dass der Liberalismus in dieser Lesart nicht nur als passives, selbst ganz bewegungsloses und weitgehend unschuldiges Opfer einer Bedrohung durch wundersam wiedererstarkte und dabei in ihrer Herkunft reichlich ominös bleibende „illiberale Kräfte“ erscheinen würde.
Es ist nicht nur so, dass ein neuer, roher demokratischer Impuls den Liberalismus bedroht, sondern dass zugleich ein expansiver Liberalismus die Demokratie substantiell beschränkt oder gar ‚zerstört‘ (Wendy Brown) und dass das eine Phänomen ohne das andere wohl nicht zu verstehen ist.
Philipp Manow