Türkei und Recep Tayyip Erdogan: Das Ergebnis steht, aber die Wahl ist spannend
Recep Tayyip Erdogan lässt sich zum Präsidenten der Türkei wählen. Die Neuordnung der politischen Spitze in Ankara kann eine Bedrohung, aber auch eine Chance sein, schreibt unser Gastautor vom European Council on Foreign Relations.
Die Präsidentschaftswahl an diesem Sonntag ist auf den ersten Blick eine langweilige Angelegenheit, denn eines ist sicher: das erstmalig direkt gewählte Staatsoberhaupt wird der bisherige türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan sein. Die spannendere Frage ist eher, ob er direkt im ersten Wahlgang gewinnen wird oder ob es einer seiner Gegenkandidaten bis in die zweite Runde am 24. August schafft. Mit Erdogans kommender Präsidentschaft stellen sich eine Reihe wichtiger Fragen für Europa:
1. Wird die Türkei unter Erdogans Führung zu einer präsidentiellen Republik?
Erdogan selbst hat nie seinen Enthusiasmus für einen solchen politischen Systemwechsel verdeckt. Bereits im Jahr 2012 hat er eine entsprechende Verfassungsänderung vorgeschlagen. Doch innerhalb des hochgradig polarisierten Parlaments erscheint diese Variante momentan nicht umsetzbar. Bis eine neue Bundesversammlung im Sommer 2015 gewählt wird, ist Erdogans beste Chance seinen Einfluss innerhalb seiner Partei AKP zu nutzen, um die türkische Politik aus dem Präsidentensessel heraus zu beeinflussen.
2. Wer wird Erdogan als Premierminister ersetzen?
Abdullah Gül, dessen Amtszeit als derzeitiger Präsident der Türkei mit den kommenden Wahlen zu Ende geht, ließ in jüngster Zeit wiederholt verlauten, dass ihn ein Wechsel à la Putin und Medvedev nicht interessiere. Doch aus machtpolitischen Gesichtspunkten heraus wäre es denkbar, dass er seine Meinung kurzfristig noch ändert. Denn Erdogan hat öffentlich angekündigt, im Falle seiner Wahl zum Präsidenten der Türkei auch sein Amt als Vorsitzender der Regierungspartei AKP abzugeben. Somit könnte Gül nicht nur neuer Premierminister sondern auch neuer Parteivorsitzender werden. Sollte die AKP stattdessen einen eher Unbekannten in die Wahl um den Posten als Premierminister schicken, bestünde für die AKP durchaus die Gefahr bei den nächsten Wahlen schmerzliche Stimmenverluste zu erleiden.
3. Was würde aus den Friedensverhandlungen mit der Arbeiterpartei Kurdistans?
Recep Tayyip Erdogan hat den Verhandlungsprozess mit den Kurden in der Türkei bislang durch wiederholte, eher kleine Zugeständnisse am Leben erhalten. Käme es bei den bevorstehenden Präsidentenwahlen zu einer Stichwahl in der zweiten Runde, würde er definitiv die Unterstützung kurdischer Wähler brauchen. Für eine Verfassungsänderung wäre er ferner auch auf die Unterstützung kurdischer Abgeordneter angewiesen. Darum ist bei einem Sieg für Erdogan von einem gestärkten Einfluss der Kurden in den südöstlichen Provinzen auszugehen.
4. Welche Folgen hätte ein Sieg Erdogans für die außenpolitischen Beziehungen der Türkei?
Erdogan hat viel politisches Kapital im Westen mit dem unbeholfenen und scharfen Vorgehen türkischer Ordnungskräfte gegen die Demonstranten der Gezi-Park-Bewegung im letzten Sommer eingebüßt. Er hat sich angewöhnt das Ausland für Krisen im Inland verantwortlich zu machen. Sowohl die Protests als auch der Bestechungsskandal um hochrangige AKP-Mitglieder wurden verschwörungstheoretisch dem Ausland angelastet. Darüber hinaus sieht es auch nicht gut in der direkten Nachbarschaft der Türkei aus: vom Untergang Muhammed Mursi in Ägypten bis zum Aufstieg der radikal-islamistischen ISIS-Bewegung in Syrien und Irak hat Ankara zahlreiche politische Niederlagen zu verkraften. Und doch, wie seine öffentlichkeitswirksame Kritik des israelischen Militäreinsatzes im Gaza-Streifen zeigt, ist Erdogan geschickt darin, über außenpolitische Herausforderungen innenpolitisch zu punkten.
5. Wie steht es um die künftigen Beziehungen zwischen Türkei und EU?
Auf Grund der geringen Unterstützung wichtiger europäischer Mitgliedsstaaten und Ankaras gleichzeitigem Interessensverlust, sind die EU-Beitrittsverhandlungen de facto zum Erliegen gekommen. Die einmal populäre Vorstellung, dass die Türkei und die EU Partner in der geteilten Nachbarschaft des nördlichen Afrikas und dem Kaukasus werden könnten, spielt auf beiden Seiten kaum mehr eine Rolle. Doch die EU hat nach wie vor Einfluss in der Türkei. Die Aussicht darauf, dass türkische Bürger visumfrei in die EU reisen können, ist ein guter Hebel in den Verhandlungen mit der Türkei.
Doch in der Realität haben sowohl Brüssel als auch Ankara momentan wenig Zeit für einander. Die Türkei ist mit ihren Präsidentschaftswahlen und einer möglichen Verfassungsänderung beschäftigt, während für den neuen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und die meisten EU-Mitgliedstaaten das Kapitel Erweiterung ganz unten auf der Prioritätenliste steht. Beide Seiten müssten die Bedeutung ihrer gegenseitigen Verbindungen anerkennen: es ist in ihrem Interesse, in Schlüsselgebieten wie dem Finanz- und Energiesektor zusammenzuarbeiten. Europa bleibt der bedeutendste Handelspartner der Türkei und die Quelle von bis zu 80 Prozent seiner direkten Auslandsinvestition, während die Türkei eine alternative Quelle für Gaslieferungen in die EU sein könnte.
Die bevorstehende Neuordnung an der politischen Spitze in Brüssel und Ankara bietet sowohl Chance wie Bedrohungen: Wenn Erdogans Wahl zum Präsident mehr Platz für Technokraten und Pragmatiker in Ankaras Kabinett lässt, wird Brüssel in Zukunft mehr Gesprächspartner und Anknüpfungspunkte haben. Doch sollte Erdogan beschließen, noch mehr Macht in seinen Händen zu konzentrieren und jedes Problem, wie die Zinssätze der Zentralbank, selbst anzugehen, wird es schwierig werden. Es liegt jetzt sowohl an der Türkei als auch an der EU, den wechselseitigen Beziehungen neues Leben einzuhauchen und sie wieder langsam zu verbessern.
Dimitar Bechev leitet das Büro des European Council on Foreign Relations in Sofia, Bulgarien.
Dimitar Bechev