Europa und der Arabische Frühling: Das doppelte Gesicht des Westens
Der Westen blickt doppelgesichtig auf die arabische Welt: weil er selbst nicht so säkular ist, wie er tut – und weil er lange weltweit auf die Religiösen gesetzt hat. Oder anders gesagt: Den muslimischen Gesellschaften wurde nie eine Chance gegeben, eine säkulare Demokratie zu entwickeln.
Vergangenes Jahr sagten wir Europäer, fast ein wenig neidisch: „In der arabischen Welt geht die Hoffnung endlich auf die Straße – und was passiert bei uns?“ Aber nun, ein Jahr später, fragen wir: Was ist aus dieser Hoffnung geworden? Wo Diktaturen waren, entstehen jetzt tendenziell Theokratien.
Aber ist das wirklich ein Rückschritt? Der britische Essayist Robin Black, früher Chefredakteur der „New Left Review“, vertritt seit einiger Zeit zwei Thesen: Die erste betrifft die erste demokratische Revolution in Europa, die Englische Revolution Oliver Cromwells und seiner Puritaner. Im Namen des christlichen Fundamentalismus hatte zum ersten Mal in der Geschichte eine Volksbewegung den Mut, einem König, Karl I., 1649 den Kopf abzuschlagen. Und mehr noch: Die amerikanische Demokratie haben die Pilgerväter gegründet, auch sie puritanische Fundamentalisten, die vor religiöser Verfolgung geflohen waren.
Es ist also mindestens unvollständig, dieses laizistische Bild der Demokratie, das der Westen entwickelt hat: Es passt vielleicht zur französischen Version von 1789 – obwohl selbst in Paris die Revolutionäre glaubten, das Ancien régime nicht ohne die Hilfe einer neuen Religion niederringen zu können – die der „Göttin Vernunft“. Wenn aber selbst in Europa demokratische Revolutionen als fundamental-religiöse Aufstände begonnen haben, dann allerdings gibt es zwischen Kapitalismus und religiösem Fundamentalismus eine noch vieldeutigere Bindung als die, die Max Weber so ausführlich untersucht hat („Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“). Vieldeutig, weil zwar einerseits calvinistische Ethik aus jeder Pore des modernen Kapitalismus dringt, andererseits aber die Verwandlung jedes Lebensaspekts in Ware etwas brisant Entheiligendes hat.
Das macht den Westen im Angesicht des Fundamentalismus so doppelgesichtig. Selbst im Fall des überlaizistischen Frankreichs sprechen Kolonialhistoriker vom „französischen Paradox“: Die Franzosen verteidigen mit Feuer und Schwert den Laizismus ihres Staats, in ihren Kolonien aber begünstigten sie immer Religiosität und bevorzugten hohe Geistliche. Auf gleicher Wellenlänge, behauptet Amartya Sen, erwies sich der britische Multikulturalismus in Wahrheit als „Multifundamentalismus“, denn er privilegierte religiöse Führer der Minderheiten als Ansprechpartner.
Islamische Postmoderne oder bigott-koranische Unterentwicklung?
Nicht zu vergessen die Vereinigten Staaten, die in den vergangenen dreißig Jahren auch von christlichen Fundamentalisten regiert wurden, von der Moral Majority Ronald Reagans bis zu den Christlichen Konservativen George Bushs jr. Sobald es um handfeste Unterstützung ging, haben die USA und die Westmächte überall in der Welt immer den Beziehungen zu Religiösen oder Integralisten den Vorzug vor linken oder laizistischen Parteien gegeben. Es war zunächst Israel, das die Hamas finanzierte, um eine damals „säkulare“ Organisation wie die PLO zu schwächen. In Pakistan zog man General Zia ul Haq dem weltlichen Ali Bhutto vor. Im Indien der 90er Jahre wurde die radikalhinduistische Bharatya-Janatha-Partei gegen die weltliche Kongresspartei der Familie Nehru ausgespielt.
Bilder: Ausschreitungen in der islamischen Welt nach dem Mohammed-Film
Dieselbe Vorliebe zeigte sich auf dem Balkan in den 90ern und schlägt im Nahen Osten heute vollständig durch. Wen anders als die diversen Salafisten, Wahhabiten, Muslimbrüder und andere Größen des islamischen Konfessionalismus hat der so laizistische Westen in Syrien und Libyen finanziert? Was anders tut er als genau jenen „Kampf der Kulturen“ anzuheizen, der ihm doch angeblich ein Gräuel ist? Hier setzt Blackburns zweite These an: Den muslimischen Gesellschaften wurde nie eine Chance gegeben, eine säkulare Demokratie zu entwickeln. Wann immer sie es versuchten, wurde das im Keim erstickt, wie zum Beispiel 1953 der bürgerliche (nationalistische) Mohammed Mossadegh im Iran.
Der einzige Laizismus, den man im Westen mochte, war der der Diktaturen, egal ob zivil oder militärisch wie in der Türkei, in Ägypten, in Syrien, im Irak, in Tunesien, in Algerien, und zuletzt im Libyen Oberst Gaddafi.
Man kann verstehen, dass die Türken genug hatten vom tyrannischen Gefängnis-Laizismus ihrer Generäle und sich einer islamistischen Partei anvertrauten: Weil all diese Regime sozialpolitisch erbarmungslos waren und die einzige Unterstützung von islamischen Wohltätigkeitsorganisationen und ihrem Netzwerk – Modell Caritas – kam.
Es ist insofern gar nicht so geheimnisvoll, warum Ägypter und Tunesier islamisch gewählt haben. Ein Problem ist nur herauszufinden, ob Ägyptens Präsident Mohammed Mursi ein ägyptischer Cromwell wird oder eine arabisch-sunnitische Variante von Khomeini. Die Frage ist, ob es den neuen konfessionellen Regierungen gelingen wird, die skandalösen wirtschaftlichen und sozialen Gegensätze auszugleichen oder ob sie wieder das alte Bündnis zwischen Klerus und Feudalismus knüpfen werden. Mit anderen Worten: Ob sie den Nahen Osten in eine islamische Postmoderne führen – oder die korrupte, westlich eingefärbte Unterentwicklung durch eine bigott-koranische ersetzen werden.
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