zum Hauptinhalt
Gedenkfeier im Bendlerblock am 20. Juli 2014
© dpa

20. Juli 1944, Attentat auf Hitler: Bismarck und Moltke: Nur einer überlebte

Gottfried von Bismarck und Helmuth James von Moltke waren nach dem 20. Juli 1944, dem Tag des misslungenen Attentats auf Adolf Hitler vor 70 Jahren, in Haft. Nur einer von ihnen überlebte. Warum verschonte Hitler den Enkel des früheren Reichskanzlers?

Hunderttausende von jubelnden Berlinern begleiteten die Parade am 16. Juni 1871, mit der das Kaiserreich den Sieg über Frankreich beging, an der Spitze des Zuges Bismarck und Moltke, der eine Reichskanzler, der andere Generalstabschef. Zwei Generationen später und nur 73 Jahre nach diesem glanzvollen Tag, im Angesicht der bevorstehenden Katastrophe des deutschen Nationalstaats, ging es noch einmal um Bismarck und Moltke, dieses Mal um Leben und Tod. Und derjenige, der über das Schicksal von zwei jungen Männern zu befinden hatte, die auf sehr unterschiedliche Weise am 20. Juli 1944 beteiligt gewesen waren, hieß Adolf Hitler.

Helmut James Graf von Moltke befand sich infolge einer Denunziation bereits seit Januar 1944 in Haft. In den letzten Monaten seines Lebens befasste sich er sich mit dem Werk seines Vorfahren, jenes genialen Strategen, der an der Seite von Bismarck die militärischen Weichenstellungen für die Reichsgründung von 1871 vorgenommen hatte. Er studierte im Gefängnis die achtbändige Edition der Moltke’schen „Gesammelten Werke“. Seine letzte Auslandsreise hatte den Kopf des Kreisauer Kreises kurz zuvor nach Istanbul geführt, wo sein Vorfahr 90 Jahre zuvor als Militärberater gewirkt hatte. Ähnliches ist von seinem Schicksalsgenossen Gottfried Graf von Bismarck anzunehmen, der sechs Monate nach der Festnahme Moltkes wegen seiner Beteiligung am 20. Juli 1944 in Haft geriet und schwer gefoltert wurde. Auch er muss sich seiner Verpflichtung als Träger eines großen Namens bewusst gewesen sein, nachdem er als Potsdamer Regierungspräsident an dem Ort gewirkt hatte, an dem der spätere Reichskanzler 100 Jahre zuvor ein Gastspiel als Referendar gegeben hatte.

Hitler, so wird berichtet, ließ sich über die Pseudo-Verfahren gegen die Attentäter des 20. Juli 1944 detailliert informieren. Nach dem Anschlag hatte er gesagt: „Ich will, dass sie gehängt werden, aufgehängt wie Schlachtvieh.“ Fotografen und Kameraleute dokumentierten den Todeskampf der Verurteilten im Gefängnis von Plötzensee, der in der Regel wenige Sekunden dauerte, sich mitunter aber mehr als 20 Minuten hinzog. Speer sah in diesen Tagen in der Wolfsschanze einen Stapel von Fotos über die Exekutionen auf Hitlers Kartentisch. Knapp drei Wochen nach Stauffenbergs gescheitertem Attentatsversuch hatten am 7. August die Schauprozesse vor dem Volksgerichtshof begonnen. Die Rachsucht des Regimes traf etwa 200 Beteiligte, erst Ende September verlangsamte sich das Morden.

Am 4. Oktober 1944 kam es zur Anklageerhebung gegen den 43-jährigen Bismarck, einen Enkel des Reichskanzlers. Zusammen mit dem Botschafter a.D. Friedrich Werner Graf von der Schulenburg, dem Staatssekretär a.D. Erwin Planck, einem Sohn des Nobelpreisträgers, sowie dem Wirtschaftswissenschaftler Jens Peter Jessen erschien Bismarck am 23. Oktober 1944 vor dem Ersten Senat des Volksgerichtshofs. Bismarcks Verfahren wurde sogleich abgetrennt, seine Mitangeklagten zum Tode verurteilt, er selbst freigesprochen. Es war in Verbindung mit dem 20. Juli 1944 der erste Freispruch.

Bismarck hatte am 20. Juli im Bendlerblock auf Stauffenberg gewartet, nachdem er mit dem Berliner Polizeipräsidenten Helldorf bereits am 15. Juli dort gewesen war, in der Erwartung, dass die Operation „Walküre“ in Gang gesetzt würde. Aber das Gericht war an solchen „Details“, die andere Verschwörer das Leben kosteten, nicht interessiert. „Entsprechend seiner gewohnten Passivität“ (!), wie es im Prozessbericht hieß, habe der Regierungspräsident „keine Maßnahmen gegen den Putschversuch unternommen“.

Bismarck, ein persönlicher Gefangener Hitlers, der nach seiner Verhaftung in der Nacht vom 29. auf den 30. Juli zunächst in das Gestapo-Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße, später in das KZ Sachsenhausen verschleppt worden war, kam jedoch nicht frei. Er wurde auf Anordnung Himmlers erneut verhaftet und in das KZ Flossenbürg abtransportiert, in dem Canaris, Oster und Bonhoeffer im April 1945 kurz vor der Ankunft amerikanischer Truppen ermordet wurden. Dieses Schicksal schien auch Bismarck nun zu drohen, der als Außenminister einer Übergangsregierung im Gespräch gewesen war.

Moltke hatte hoffen können freizukommen

Gedenkfeier im Bendlerblock am 20. Juli 2014
Gedenkfeier im Bendlerblock am 20. Juli 2014
© dpa

In einem Brandenburger Polizeigefängnis kreuzten sich wenige Wochen später die Lebensschicksale von Bismarck und Moltke. Denn in der Polizeistation von Drögen, in der Nähe von Fürstenberg/ Havel, sahen die beiden ihre Ehefrauen wieder. Moltke war Insasse des nahe gelegenen Konzentrationslagers Ravensbrück, Bismarck wurde im Dezember 1944 von Flossenbürg dorthin überstellt und von einer Sonderkommission befragt, die „Spezialfälle“ wie den von Canaris behandelte. Anschließend verlegte man Bismarck zurück in das Gestapo-Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße, das ein britischer Luftangriff am Tag seiner Ankunft zerstörte. Am 7. Februar 1945 wurde Bismarck in das KZ Buchenwald transportiert, wo ihm ein SS-Mann bei der Ankunft eröffnete, dass er seine Habseligkeiten nicht auszupacken brauche. Er werde nicht bleiben. Schon einen Tag später wurde er freigelassen. Während sich Bismarcks Ehefrau, vorübergehend selbst inhaftiert, bei Gestapo-Chef Heinrich Müller nach dem Verbleib ihres Mannes erkundigte, stand der Ex-Regierungspräsident bereits vor der Haustür.

Moltke hatte kurz vor dem 20. Juli 1944, ähnlich wie Hans von Dohnanyi, hoffen können, freizukommen. Müller hatte ihm bei einem Besuch in Ravensbrück anstelle einer Rückkehr ins Oberkommando der Wehrmacht einen Fronteinsatz als Infanterist oder Fallschirmjäger in Aussicht gestellt. Nach dem 20. Juli war alles anders, die Kerngruppe des deutschen Widerstandes fand sich zum Teil in Ravensbrück wieder. Über den „Flurfunk“ hörte Moltke, dass einige der engsten Weggefährten wie Peter York von Wartenburg, Julius Leber und Wilhelm Leuschner nur ein paar Meter von ihm entfernt Zellen bezogen hatten.

Am 27. September 1944 wurde Moltke von Ravensbrück mit kurzem Zwischenaufenthalt im Wehrmachts- und Polizeigefängnis in der Lehrter Straße in die Justizvollzugsanstalt nach Tegel gebracht, in die Nähe seines späteren Hinrichtungsortes. Am 8. Januar 1945 erhielt der 37-Jährige seine Anklageschrift, der Prozess vor dem Volksgerichtshof begann einen Tag später. Zwei Tage bevor die Rote Armee mit dem Sturm auf Ostpreußen begann, wurde am 11. Januar 1945 gegen 16 Uhr das Todesurteil gegen Moltke verkündet.

Entgegen der üblichen Praxis transportierte man Moltke nicht sogleich zum Hinrichtungsort, es sah nach einer Parallele zum Fall Bismarck aus. Moltke hatte vom „Freispruch“ Bismarcks erfahren. Daraus schöpfte er Hoffnung für sich selbst. Der Briefwechsel mit seiner Frau zeigt, dass er bis zur letzten Sekunde gehofft hat, als Träger eines ähnlich großen Namens, als Nachfahre des kongenialen Partners von Bismarck, wie dessen Enkel verschont zu werden. Aber Moltke sollte nicht das Glück haben, das Bismarck zuteil wurde.

Am späten Vormittag des 23. Januar 1945, als sich neue Hoffnung zu regen begann, als nahezu zwei Wochen seit der Urteilsverkündung ins Land gegangen waren, wurde Moltke mit einem Auto abgeholt, das ihn zum Hinrichtungskomplex von Plötzensee beförderte. Nach dem Protokoll der Vollzugsanstalt wurde Helmuth James Graf von Moltke gegen 16 Uhr gehängt, seine Asche gemäß einer Anordnung Himmlers auf Rieselfeldern verstreut.

Beide Fälle, so kann gemutmaßt werden, befanden sich monatelang auf Hitlers Schreibtisch. Gelegentliche Frontbesuche hatten zur Folge, dass sich die Entscheidung über ihr Schicksal immer wieder hinauszögerte. Der zeitliche Ablauf, das Hinausschieben der Hinrichtungsanordnung für Moltke, die nochmalige intensive Befragung von Bismarck durch eine Sonderkommission in Drögen, lassen vermuten, dass der Würfel zugunsten von Bismarck erst in letzter Sekunde fiel. Das Verhalten des Diktators nach dem 20. Juli 1944 legt nahe, dass er eigentlich beide hinrichten lassen wollte.

Mit Sicherheit war der „Fall“ Bismarck für das Regime der „schwerwiegendere“ als die Sache Moltke. Die von Freisler gegen Moltke erhobenen Vorwürfe waren absurd: in Kreisau seien Dinge besprochen worden, „die zur ausschließlichen Zuständigkeit des Führers gehören“. Der Enkel des Reichskanzlers hatte hingegen seit Ende 1942 zum Kreis um Stauffenberg gehört. An seinem Dienstsitz und auf dem Landsitz in Pommern hatten entscheidende Gespräche der Verschwörer stattgefunden. Und: in einem Schließfach im Potsdamer Regierungspräsidium befand sich das Material für Stauffenbergs Bombe. Eine Verwandte des Regierungspräsidenten hatte den übrig gebliebenen Sprengstoff nach dem 20. Juli und nach Bismarcks Verhaftung unter glücklichsten Umständen beiseiteschaffen können.

Bismarck und Moltke: Der eine Macher, der andere skrupulöser Denker

Gedenkfeier im Bendlerblock am 20. Juli 2014
Gedenkfeier im Bendlerblock am 20. Juli 2014
© dpa

Viel spricht daher für die These, dass Potsdam neben Berlin und Paris am 20. Juli 1944 der dritte Brennpunkt des Geschehens sein sollte. Im Bereich des Regierungspräsidenten befanden sich große Truppenübungsplätze und Wehrmachtsschulen, unter anderem eine Panzereinheit, die sich aus Krampnitz auf dem Weg zum Berliner Regierungsviertel befand, ehe sie angehalten wurde.

Moltke war im Gegensatz zu Stauffenberg, Tresckow und Bismarck kein Tätertypus, sondern ein Planer, ein skrupulöser Denker und Moralist. Dietrich Bonhoeffer, der mit ihm im Krieg eine Norwegenreise unternahm, verstand sich mit Moltke nicht, „der ihn etwas langweilte und ungeduldig machte“. Moltke hatte kein Programm für die rasche Herbeiführung eines Waffenstillstandes, sondern Ideen für die Zukunft Deutschlands und Europas. Seit der Formulierung des alliierten „unconditional surrender“ waren derartige Pläne aber illusorisch, der deutsche Widerstand besaß in den Planungen der kommenden Siegermächte keinen Stellenwert. Allerdings beeinflussten Moltkes Ideen die europäischen Widerstandsbewegungen und wurden nach 1945 in gewisser Weise doch noch geschichtsmächtig.

Eine Ermordung Hitlers lehnte Moltke ab. Einige Mitglieder des Kreisauer Kreises entschieden sich am Ende, zur Stauffenberg-Gruppe überzuwechseln. Als Eugen Gerstenmaier im Gefängnis die Tat des 20. Juli rechtfertigte, widersprach Moltke nicht mehr. „Er sagte nicht ja. Er sagte auch nicht nein.“

Warum ließ Hitler Bismarck am Leben? Ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes hielt in jenen Tagen in seinem Tagebuch fest: „Der Freispruch erspart dem Regime die Hinrichtung eines Enkels von Bismarck. Dagegen hört man nicht, dass anderen Verschworenen Pardon gegeben werde.“ Viel spricht dafür, dass es genauso war. Hitler, nicht Himmler, war in den letzten Tagen des Dritten Reiches der wahre Herr über Leben und Tod. Er hatte in diesen Wochen einen dritten „Kandidaten“ im Auge: Georg Elser. Dieser hatte es 1939 beinahe geschafft, Hitler mit einer Bombe im Münchner Bürgerbräukeller zu töten. Der Diktator hielt ihn seitdem wie einen Kanarienvogel im Käfig und ließ ihn im April 1945 ermorden, als sich US-Truppen München und dem KZ Dachau, in dem er einsaß, näherten. Gegen Moltke hatte sich der Daumen bereits gesenkt, nur Bismarck überlebte. Hitler räumte damit ein, dass dieser Name, die verbliebenen Fetzen der Kulturnation Deutschland stärker waren als das Tausendjährige Reich.

Bismarck war, obwohl er die KZ-Haft überlebt hatte, nach dem Kriegsende ein gebrochener Mann. Er machte sich Vorwürfe wegen seines anfänglichen Opportunismus gegenüber dem Regime. Sein enger Draht zu Himmler hatte ihm Anfang 1944 noch den Rang eines SS-Brigadeführers eingebracht und damit einen Spielraum, den er zur Rettung von Potsdamer Juden und Regimegegnern entschlossen nutzte. Auch am 20. Juli 1944 hätte diese Camouflage-Möglichkeit eine Bedeutung haben können.

Gottfried Graf von Bismarck kam am 14. September 1949 zusammen mit seiner Frau Melanie bei einem Verkehrsunfall in der Nähe von Verden an der Aller ums Leben. Sein einziger Sohn, Schwiegervater von Ex-Verteidigungsminister zu Guttenberg, hatte als 8-Jähriger seine Eltern davonfahren sehen. Das Schicksal seines Vaters trieb ihn zeitlebens um. Andreas Graf von Bismarck starb am 20. Juli 2013.

Jochen Thies

Zur Startseite