Lebensmittelskandale: Bio hat seine Unschuld verloren
Zu salzig, zu fettig, zu viel Zucker: Aus der Öko-Branche kommen zurzeit schlechten Nachrichten. Der Vertrauensverlust kann allerdings auch nützlich sein - denn in Zukunft wird man genauer hinschauen müssen.
In dem kleinen Dorf in der Pfalz beobachtet man „die Grünen“ mit einem gewissen Argwohn. Gemeint ist eine Gruppe Zugezogener und das „Grün“ bezieht sich auf ihren Lebensstil. Da ist zum Beispiel die Familie mit den drei kleinen Kindern. Alle drei Hausgeburten, erzählt man sich und flüstert ein Ausrufezeichen hinterher. Auf der Leine im Garten der Familie trocknen graugewaschene Stoffwindeln, darunter wächst der Selbstversorger- Kohl. Jeden Abend trägt der Vater den Jüngsten im Tragetuch zum Einschlafen auf den Hügel.
650 Kilometer weiter nordöstlich, in einem Biosupermarkt an der Greifswalder Straße, legt um acht Uhr abends ein junger Mann mit Hipster-Bart und Hipster-Brille seine Einkäufe aufs Band, während er in sein Smartphone spricht: eine Flasche Rotwein, eine Tiefkühlpizza, ein Schokoriegel. Sowohl die Pizza als auch der Schokoriegel sind gleich doppelt verpackt, in Plastikfolie und Karton. Der junge Mann bezahlt mit der Kreditkarte, ohne aufzuhören zu telefonieren und trägt dann sein Abendessen nach Hause.
Das Bio-Siegel klebt inzwischen an vielen Lebensstilen
Das Bio-Siegel klebt inzwischen an einem breiten Spektrum von Lebensstilen. Es kann für Mühe stehen, weil man auf Einmalwindeln verzichtet und einen die Nachbarn für verschroben halten. Der großen Masse derer aber, die den Bio-Boom als Konsumenten befeuern, tut nichts weh. Die Zeiten von bräunlichen Zahnpastas und sozialer Ächtung sind vorbei. Bio schmeckt gut und riecht gut und sieht gut aus. Das Versprechen, dass das ökologische Leben leicht und lecker sei, hat die „Vermassung“ auf rund zwei Prozent Marktanteil erst möglich gemacht hat. Doch das reine Gewissen, das man mit der Kreditkarte bezahlen kann, ist wohl auch nur eine der kleinen Lebenslügen der Konsumgesellschaft. Dafür finden sich beinahe im Wochentakt neue Belege.
Die Verbraucherzentrale Hamburg etwa hat kürzlich einige vegane Lebensmittel aus biologischem Anbau untersucht. Bei vielen der Produkte konnten die Verbraucherschützer das Attribut „nachhaltig“ nicht bestätigen, einige Hersteller wollten die Herkunft ihrer Rohstoffe lieber geheim halten. Gefunden haben die Hamburger in den schönen Verpackungen dafür astreine Industrienahrung. Viele der Produkte seien zu salzig und zu fettig, befanden sie. Eine vegane Frikadelle brachte es sogar auf 35 Prozent mehr Fett als ein vergleichbare Bulette aus Fleisch.
In ihrem Bemühen, ein größeres Publikum anzusprechen, hat die Bio-Branche inzwischen fast jedes Produkt nachgebaut, das sich auf dem herkömmlichen Lebensmittelmarkt gut verkauft – auch dann, wenn die Originale die Missgunst von Ernährungsexperten auf sich gezogen haben. Auch im Bio-Supermarkt gibt es „Müslis“, die aufgrund ihres Zucker- und Fettgehalts besser als zerbröselte Kekse deklariert wären. Um einem milchfreien Käse zu so etwas wie Geschmack zu verhelfen, braucht es ein ganzes Labor voller Lebensmitteltechniker. Es wird mit dem Label „glutamatfrei“ geworben, dann aber Hefeextrakt zugesetzt. Es werden minderwerte Fette wie Palm- oder Kokosfett verwendet. Und ohne Tiefkühlpizza geht es eben nicht in einem Großstadtsupermarkt, in dem sich Workaholics ihr schnelles Abendessen besorgen.
Der Bio-Zweifel ist im Unterbewusstsein verankert
Dass „Bio“ nicht immer gleich gesund ist, sollte uns eigentlich nicht überraschen. Die Debatten und Skandale der vergangenen Jahre haben längst den Bio-Zweifel im Unterbewusstsein verankert, ein Alarmsignal, das anspringt, wenn ein Hersteller die heile Welt am Stück für 1,99 Euro verkauft: der „Bio“-Treibstoff E10, falsch deklarierte Eier, die Kompliziertheiten der Energiewende und natürlich die große Frage, ob es nun besser ist, den Granny aus Neuseeland einzufliegen oder den Elstar in Brandenburg den ganzen Winter lang zu kühlen. Bio hat seine Unschuld verloren. Als Ablass taugt das Label nicht mehr.
Die Kommission in Brüssel sieht inzwischen sogar die ganze Branche von einem Vertrauensverlust bedroht. EU-Agrarkommissar Dacian Ciolos hebt an, die Regeln für den Anbau biologischer Lebensmitteln zu verschärfen. Ausnahmen, etwa bei der Verwendung herkömmlicher Futtermittel, sollen eingeschränkt werden, „damit die Verbraucher den Siegeln wieder vertrauen können“. In einem gesunden Misstrauen liegt aber auch eine Chance. Ökologisch leben, das hieß ja einmal vor allem, bewusst zu leben. Nicht jeder will und kann den eigenen Kohl anbauen. Zumindest die Etiketten muss man aber wohl wieder genauer lesen, bevor man den Einkauf aufs Band legt.
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