Datenschutz und NSA: Big Brother ist Demokrat
Die NSA-Affäre macht deutlich: Staaten und Bürger sind heute Täter und Opfer zugleich. Man will weder Polizei noch Firmenvertreter in seiner Haustür, aber negiert ihre Präsenz in der eigenen digitalen Cloud.
Was wir gerade erleben, gleicht einer Zeitenwende. Zeitenwende!?
„Haben Sie’s nicht ’ne Nummer kleiner?“, pflegte Kurt Tucholsky bei zu viel Pathos zu fragen. Doch was gerade passiert, ist etwas Großes, Unheimliches, noch kaum Absehbares. Die durch den NSA-Abhörskandal enthüllte Dimension der weltweiten Überwachung jeglicher privater digitaler Kommunikation bedeutet nach der Erfindung des Computers, des Mikrochips und des Internets nicht einfach nur eine weitere elektronische Revolution. Es geht um eine Zäsur – politisch, juristisch, kulturell.
Bisher war die Orwell’sche Vision des „Big Brother is Watching You“ immer nur auf eine totalitäre Diktatur bezogen. Nun aber realisiert sie sich in der demokratischen Führungsmacht des Westens. Und das wird kein Ende haben, denn „imperialer Wissensdurst ist unstillbar“ (so der Politologe Herfried Münkler unlängst in der „Neuen Zürcher Zeitung“). Augen und Ohren unseres großen Bruders werden sich nicht schließen, und das technisch Machbare wird unterm Signum der erhofften Sicherheit und Abschreckung auch weiterhin gemacht werden. In Amerika und gar im digitalen Orbit gilt kein deutsches Grundgesetz, der in Sachen Bürgerrechten tugendhafte Territorialstaat ist ohnmächtig, und das vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Grundrecht auf „informationelle Selbstbestimmung“ greift hier ins Leere.
Denkbar und idealiter wünschbar wäre natürlich ein internationales Abkommen, auch eine Erweiterung der UN-Menschenrechtscharta, um das Bürgerrecht auf Privatheit im Weltreich des Digitalen neu zu verankern. Aber weder die USA noch Russland, China und eine Reihe anderer Staaten, von Großbritannien bis zum Iran und auch Israel, würden einer wesentlichen Beschränkung ihrer Geheimdienste zustimmen.
Die Integrität der menschlichen Individual- und Intimsphäre ist ein hohes Gut. Doch im Gegeneinander von Freiheit und Sicherheit ändern sich Wahrnehmung und Wertung sehr schnell. Gerade jetzt.
Wir müssen nicht mehr daran erinnern, wie die alte Bundesrepublik noch wegen der Datensammlung bei einer amtlichen Volkszählung schier aus dem Häuschen geriet. Alles Asbach. Seit Terror und Kriege wieder nähergerückt sind, wird der Staat als Wächter (und notfalls Überwacher) nicht nur geduldet, sondern oft und lieber stärker als schwächer gewollt. Zudem fällt eine zweifache Spaltung auf.
Es gibt Länder, deren Bürger dem Staat traditionell misstrauen, ihm keine Steuern gönnen und beispielsweise kein Hineinregieren in Fragen des Elternrechts oder der Gesundheitsfürsorge erlauben. Trotzdem delegieren diese Bürger großzügig eigene Freiheitsrechte an ihren ungeliebten Staat. Hierbei existiert dann auch kein genereller Gegensatz etwa zwischen neuem Amerika und „altem“ Europa.
Man nehme Italien. Seit längerem kritisiert der von der Mafia verfolgte Autor Roberto Saviano die deutschen Behörden und Gesetze, die zu wenig Überwachung und effektive Verfolgung des in und von Deutschland aus operierenden organisierten Verbrechens ermöglichten. Die zuletzt spektakulären Festnahmen von Mafiabossen aber verdanken sich in Italien der flächendeckenden, wenig skrupulösen Abschöpfung des Handy- und Mailverkehrs. Davor ist selbst ein Ministerpräsident nicht sicher, und darauf beruhen einige Anklagen gegen Silvio Berlusconi, an deren pikanten Details sich auch das deutsche Publikum gerne ergötzt. Die Italiener schätzen ihre „Privacy“ (sie lieben dieses Fremdwort) und haben zugleich eine Schwäche fürs Exhibitionistische.
An dieser Schwäche laboriert allerdings fast die ganze digitale Moderne. Denn die unmittelbar leibhaftige (analoge) Privatheit wird abgespalten von der ungehemmten virtuellen Selbstdarstellung. Man will weder Polizei noch Firmenvertreter in seiner Haustür, aber negiert ihre Präsenz in der eigenen digitalen Cloud.
Geht es statt um die NSA um den NSU, vermissen viele sonst über die USA Empörte die staatliche Überwachung. Tatsächlich ist fraglich, was genehmer erscheint: dubiose V-Leute im braunen Sumpf oder stärkere Eingriffe in die digitale Kommunikation eines Teils der Gesellschaft.
Alles ist ambivalent. Die absolute Freiheit des Netzes erweist sich als Illusion. Soziale Netzwerke aber sind in vielen Ländern Triebfedern zivilen Widerstands und des Kampfs um bürgerliche Freiheit. Einst Unvorstellbares wie Auschwitz wäre nicht möglich gewesen, wenn es die heutige Transparenz und Informationstechnik gegeben hätte. So werden jetzt Staaten mächtiger und ohnmächtiger zugleich. Ihnen bleibt nichts geheim – aber auch ihre Geheimnisse werden schneller denn je offenbar.