Großveranstaltungen in der Stadt: Am Christopher Street Day wird es eng in Berlin
Wer an diesem Sonnabend in die Innenstadt muss oder will, braucht gute Nerven - und viel Zeit. Es ist Christopher Street Day, und der findet gleich an mehreren Orten statt. Ein Kommentar.
Jede möge nach ihrer, jeder möge nach seiner Façon selig werden: Dieser altmodische Satz wird in dieser Stadt von so vielen so intensiv gelebt, als wäre er ein Grundsatzartikel der Berliner Landesverfassung. Der Satz ist die historische Frühform von „arm, aber sexy“, und einmal im Jahr, an einem Wochenende im Mehr-oder-weniger-Sommer, beherrscht das Façon-Dogma das Leben in der Stadt. Dann wird es eng in Berlin.
Längst funktioniert die Stadt nicht mehr so, dass man am Sonnabend Vormittag darauf kommt, man könne in zwei Stunden mit dem Sohn eine neue Jeans und Turnschuhe gekauft haben. Das ist – wegen der üblichen Berliner Veranstaltungs- und Demodichte – an jedem Wochenende eine Geduldsprobe. Am engsten Tag aber wäre es fast Kindesmisshandlung. Am engsten Tag sollten Normal-Berliner normalstädtische Vorhaben unterlassen. Inzwischen gibt es drei Veranstaltungen, die mit dem Christopher Street Day zu tun haben: der gewohnte CSD, dazu der stärker politisierte CSD des „Aktionsbündnisses CSD“ plus die Demo „Ein CSD in Kreuzberg“. Da sind Toleranz und Akzeptanz entscheidend: Akzeptanz homosexueller und queerer Gleichberechtigung, Toleranz für ein an diesem Tag ausgesprochen schaumiges Selbstdarstellungsbedürfnis der Community mit allen Nebenwirkungen wie gesperrte Straßen.
Berlin gilt als offen und tolerant
Man sagt den Berlinern seit langem Offenheit und Bereitschaft zur Toleranz nach. Zu Recht. Es könnte mit dem Façon-Dogma zu tun haben und ein bisschen mehr damit, dass die Stadt lange Erfahrungen mit Zuzüglern hatte und hat. Es gab öfter mal Zeiten, in denen es in Berlin schnell enger wurde, die Stadt hatte mal vier Millionen Einwohner. Nun ist wieder so eine Zeit, in der es enger wird. Wo es enger wird, werden die Konflikte heftiger – die Verteilungs- und die Durchsetzungskonflikte. Der Lärm von Clubs gegen das Schlafbedürfnis wohlhabender neuer Mitte-Bewohner; Kinderspiel- oder Bolzplatzradau gegen das Ruhe-Verlangen angehender Hausbesitzer: Leute versuchen, mit Geld und notfalls auf dem Klageweg durchzusetzen, was sie für ihr Recht und andere für eingebildete Privilegien halten.
Die Bereitschaft zur Toleranz ist nicht bei allen gleich. Es wäre ein interessanter Großversuch, wenn die tausend glaubensstärksten Katholiken von Berlin vor der CDU-Parteizentrale und tausend weitere vor dem Familienministerium von Manuela Schwesig eine mehrtägige Mahnwache für die Rückkehr zu einem konservativen Familienbild abhielten, Verkehrsbeeinträchtigungen inklusive. Wer dann wohl nach Toleranz riefe …
Die systematische Halligallisierung Berlins
Doch stellt sich bei allen politisch korrekten und politisch inkorrekten Forderungen nach Respekt, Toleranz und Rücksicht auf die Interessen anderer in Berlin immer häufiger die Frage, ob solche Forderungen nur vor Gericht geklärt werden können. Eine fünf Meter hohe Lärmschutzwand zwischen einer neuen Eigenheimsiedlung und einem Fußballplatz, über die sich manche ärgern, ist von einer Behörde genehmigt worden. Zwei CSD-Paraden (plus eine in Kreuzberg!) an einem Tag, die die halbe Stadt lahmlegen, sind von einer Behörde genehmigt worden. Andere Behörden genehmigen die Dauernutzung der halben Straße des 17. Juni – doch traut sich die Politik nicht, die Straße ganz zu sperren, um dort die Halligallisierung Berlins systematisch vorantreiben zu können.
Toleranz brauchen die meisten Berliner nicht bloß füreinander. Toleranz brauchen sie vor allem für Politik und Verwaltung.