Europa nach der Wahl: Alle Macht den Enttäuschten
Angela Merkel sollte der Versuchung widerstehen, in dieser großen Krise Europas ihren Einfluss zu erweitern. Sie sollte vielmehr das Gegenteil tun: Ihre eigene Rolle in Europa beschneiden.
Das ist die alte EU: Während am Wahlabend im Hintergrund die Balken der rechtspopulistischen Front National unablässig nach oben wachsen, rangeln vorne zwei ältere Herren bereits um den EU-Spitzenjob. Martin Schulz und Jean-Claude Juncker haben die Realität Europas im Rücken, nicht vor Augen. Doch die Realität dieser EU besteht darin, dass sich die Franzosen, die historischen Partner der Deutschen, gerade politisch aus der Union verabschieden und die Union gleichzeitig von radikalen Linken und Rechten in die Zange genommen wird.
Die Europäische Union ist das Versprechen, politisch zusammenzuführen und zu stärken, was alle in Europa verbindet. Dafür gibt es noch immer eine große Zustimmung. Was gerade scheitert, ist der Versuch, diese Schnittmenge über alle kulturellen und politischen Unterschiede hinweg ständig zu vergrößern. Die Erwartung, dass die Europäer sich schon an die Integrationsgeschwindigkeit der Union anpassen würden, hat sich nicht erfüllt. Die einen wollen die Sozialunion, die anderen eine Freihandelszone. Wie beim Euro ist die Union in eine Sackgasse geraten, jeder Schritt ruft Widerstand hervor. Es ist deshalb notwendig, die Union wieder an die echte Schnittmenge in Europa anzupassen, indem man die Menschen einmal fragt, welche Politikfelder europäisch organisiert sein sollen.
Die Europawahl 2014 ist ein historischer Einschnitt, weil sie zeigt, dass die EU eine andere geworden ist: Aus dem Demokratisierungsprojekt, das mit Umverteilung und gesellschaftlicher Mobilität verbunden war, ist ein Disziplinierungsprojekt geworden. Es geht heute darum, die Wettbewerbsfähigkeit eines in vielerlei Hinsicht schrumpfenden Kontinents zu erhalten. Das ist weniger populär, und deshalb kommt Brüssel Politikern wie François Hollande oder Silvio Berlusconi ja so recht: Die EU anonymisiert die Verantwortung für unangenehme politische Entscheidungen. Diesen Ausweg sollte sie nicht länger bieten, sondern die Verantwortung wieder dort verankern, wo sie für die Wähler erkennbar bleibt: bei Hollande, bei den nationalen Regierungen.
Eine Lehre für die Kanzlerin
Die Wahl hält aus diesem Grund eine besondere Lehre für Angela Merkel bereit. Die deutsche Kanzlerin hat die Verantwortung für die Politik in Europa übernommen. Sie war bereit, die Disziplinierungspolitik zu vertreten. Ob sie damit die Euro-Krise beendet oder nur unterbrochen hat, ist offen. Fest steht aber schon jetzt, dass sie damit eine ernst zu nehmende Konkurrenz zur CDU ermöglicht und den Zorn halb Europas auf Deutschland gezogen hat. Ihre Reaktion auf die Wahl lässt vermuten, dass sie diese pädagogische Politik fortsetzen will: Ein europäischer Kurs, der Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze verkörpere, sei die beste Antwort auf die Enttäuschten, sagte Merkel nach der Wahl. Dann besteht der europäische Kurs jedoch weiterhin darin, dass die Bundeskanzlerin mit den Griechen und Franzosen darüber streitet, was gut für ihr Land ist – statt dass die es selber entscheiden und auch die Konsequenzen, wie etwa Schulden, selber tragen.
Angela Merkel sollte der Versuchung widerstehen, jetzt, da es sonst niemanden mehr gibt in Europa, ihren Einfluss zu erweitern. Sie sollte vielmehr das Gegenteil tun: die Verantwortung für ihre politischen Entscheidungen wieder den Enttäuschten selbst zu geben. Merkel muss die neue Schnittmenge Europas finden. Dazu gehört auch, dass sie ihre eigene Rolle in Europa beschneidet.