Schwarze Utopien: Absolute Sicherheit bedeutet absolute Unmenschlichkeit
Schwarze Utopien erobern Film und Literatur. Sie stehen für unsere pessimistische Sicht auf die Zukunft. Absolute Sicherheit ist das Ziel. Doch eine absolut sorglose Gesellschaft ist auch eine unmenschliche Gesellschaft. Ein Essay.
Aus der Traumfabrik Hollywood ist, so scheint es auf den ersten Blick, eine Albtraumfabrik geworden. Die Blockbuster der vergangenen Monate – „Interstellar“, „Maze Runner“ und nun der dritte Teil der „Hunger Games“-Reihe – entwerfen eine trostlose Zukunft: Die Zerstörung der Umwelt treibt die Menschheit dazu, einen neuen Heimatplaneten zu suchen („Interstellar“). Junge Menschen werden, aller Erinnerung beraubt, wie Laborratten zu wissenschaftlichen Zwecken in einem Labyrinth ausgesetzt („Maze Runner“). Eine dekadente, spätrömische Gesellschaft, die andere Menschen ausbeutet und unterdrückt, um sich ein Leben in Luxus und Ausschweifungen zu ermöglichen („Hunger Games“).
Unser Utopia ist eine finstere Zukunft
Bereits seit einigen Jahren wird im Kino die Zukunft in düstersten Farben gemalt. Und auch in der Literatur sind Schwarze Utopien seit Jahrzehnten eine bestimmende Größe. Orwells „1984“, Huxleys „Schöne neue Welt“, Bradburys „Fahrenheit 451“ oder zuletzt Dave Eggers’ „The Circle“ fassen die Ängste einer Gesellschaft in Worte – vor äußeren und inneren Feinden oder den potenziellen Gefahren kultureller und technologischer Entwicklungen. Und Filme wie „Metropolis“, „Matrix“, „Gattacca“ oder „Minority Report“ führen uns diese Gefahren bildlich vor Augen.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden utopische Zukunftsentwürfe nahezu vollständig durch Schwarze Utopien verdrängt. Es geht uns heute nicht mehr, wie es einst Thomas Morus zum Schluss seiner „Utopia“ im Jahr 1516 schrieb, um Dinge, die „ich unseren Staaten eher wünschen möchte als erhoffen kann“. Unser Utopia ist kein unerreichbarer Sehnsuchtsort, sondern eine finstere Zukunft, von der wir befürchten, dass wir unentrinnbar auf sie zutreiben. Wir fühlen uns wie auf einer Titanic, wenige Augenblicke vor der Katastrophe: Wir sehen den Eisberg und ahnen das Verderben, aber können den Zusammenstoß nicht mehr verhindern.
Film und Literatur spiegeln hier die pessimistische Sicht unserer Gesellschaft auf die Zukunft. Wachstum, Fortschritt und Veränderung sind nicht mehr positive Kräfte zur Veränderung und Verbesserung unserer Welt. Sondern sie sind auch – und oft: zuallererst – Gefahren. Die Zukunft wird zur Bedrohung, während die Bewahrung der Gegenwart oder die Rückkehr zu einer idealisierten Vergangenheit Sicherheit verspricht.
Mit den Diktaturen des 20. Jahrhunderts starb auch die utopische Hoffnung auf Aufklärung
Dass diese Warnungen vor der Zukunft uns heute so plausibel erscheinen, ist ein Erbe unserer Geschichte. Denn mit den Verbrechen der totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts starb auch die utopische Hoffnung der Aufklärung. Faschismus und Kommunismus, die dem Weltgeist und den Gesetzen der Geschichte zur Hand gehen wollten, führten die Menschheit nicht in eine bessere, sichere Zukunft, sondern in die Katastrophe.
Diese historische Erfahrung hat zu einem radikalen Bruch mit dem utopischen Denken geführt. Die Verwirklichung einer idealen Gesellschaftsordnung, so kritisierte Karl Popper 1944, führe nicht zu einer Befreiung der Menschen, sondern zu Diktatur und Selbstzerstörung. Utopischen Versprechen, so die Lehre unserer Geschichte, ist nicht zu trauen. An die Stelle des – vielleicht naiven – Vertrauens trat stattdessen gerade in Deutschland die Sorge, dass Fortschritt und Veränderung zu neuen Katastrophen führen könnten. So wurde die Zukunft von einer Verheißung zu einem Risiko.
Dieser steten Sorge vor der Zukunft hat der deutsche Philosoph Hans Jonas mit seiner Formulierung des „Prinzips Verantwortung“ eine Denkform gegeben. Bei Zukunftsentscheidungen empfiehlt er modernen Zivilisationen eine „Heuristik der Furcht“. Bei „schwankenden Prognosen“ sei „der warnenden Gehör zu geben“. Mit anderen Worten: solange ein Risiko verbleibt, soll eine neue Technologie nicht eingesetzt werden.
Dieses Denken, das in Deutschland (aber keineswegs nur hierzulande) weit verbreitet ist, ist – entgegen Jonas’ Formulierung – aber eben nicht das Prinzip der Verantwortung. Sondern das Prinzip der Sicherheit. Risiken und Unsicherheiten sollen um jeden Preis vermieden werden. Absolute Sicherheit ist das Ziel. Das Paradoxon jedoch ist, dass die Verwirklichung absoluter Sicherheit selbst eine dystopische Zukunft schafft, in der Fortschritt und Veränderung zum Verbrechen würde. Aus der guten Absicht entstünde, im Falle einer konsequenten Umsetzung dieses Denkens, eine Diktatur der Pessimisten, in der die Entwicklung von Mensch und Gesellschaft zum Stillstand käme.
Im Lateinischen wie im Deutschen hat das Wort „Sorge“ eine doppelte Bedeutung
Unmenschlich ist der Traum von absoluter Sicherheit aber auch in anderer Hinsicht. Das lateinische securitas – von dem sich auch das deutsche Wort Sicherheit herleitet – bedeutet nicht zufällig so viel wie „ohne Sorge“ oder „sorglos“ (secura). Und im Lateinischen wie im Deutschen hat das Wort „Sorge“ eine doppelte Bedeutung: Es meint zugleich unsere Sorge vor einer Gefahr, aber eben auch die Sorge für etwas oder jemanden.
Eine Gesellschaft ohne Sorgen, das ist – so schrieb schon 1921 Jewgenij Samjatin in seinem Roman „Wir“ – der „uralte Traum vom Paradies“. Eine Gesellschaft, in der jeder Mensch „mit einer Kette an das Glück“ geschmiedet worden ist. „In diesem Paradies“, so Samjatin, „haben die Menschen keine Wünsche mehr, sie kennen kein Mitleid, keine Liebe, dort gibt es nur Selige, denen man die Fantasie herausoperiert hat“. Eine absolut sichere, absolut sorglose Gesellschaft – das ist auch eine absolut unmenschliche Gesellschaft.
Unsicherheit schafft in den düsteren Zukunftslandschaften einen neuen Raum der Menschlichkeit
Die totale Durchsetzung des Prinzips Sicherheit, das ist der Hintergrund, vor dem sich in Kino und Literatur die Schwarzen Utopien entfalten. Zugleich jedoch wohnt gerade dystopischen Erzählungen auch immer ein Funke Hoffnung inne. Denn um absolute Sicherheit durchzusetzen, muss der Staat der Gesellschaft mit Gewalt eine Ordnung aufzwingen. Zwang und Unterdrückung aber schaffen neue Situationen der Unsicherheit. Und diese Unsicherheit schafft in den düsteren Zukunftslandschaften einen neuen Raum der Menschlichkeit. Auch das gehört zu unserer geschichtlichen Erfahrung: Die Gewalt des Staates, der absolute Sicherheit und Gehorsam erzwingen will, treibt die Menschen zur Sorge umeinander und füreinander, und macht dadurch die Essenz des Menschlichen spür- und erkennbar.
Der Philologe Victor Klemperer, während der Nazi-Diktatur verfolgt und nur knapp dem Tode entgangen, hat diesem menschlichen Heldentum 1946 ein sehr persönliches Denkmal gesetzt. „Die Hitlerjahre“, so schrieb er rückblickend, „haben den reinsten Heroismus gezeigt“. Aber nicht auf der Seite der Herrschenden, sondern auf der Seite der Unterdrückten und der Opfer.
Klemperer erinnert sich an die vielen Tapferen in den Konzentrationslagern. Und er schreibt von dem trostlosen und stillen Heldentum jener „arischer“ Frauen, die ihren jüdischen Männern zur Seite standen. Auch und gerade in den Stunden größter Hoffnungslosigkeit. Zu diesen stillen Heldinnen gehörte auch seine Ehefrau Eva Klemperer. „Ohne Dich“, so schrieb Victor Klemperer Weihnachten 1946, „wäre heute dieses Buch nicht vorhanden und auch längst nicht mehr sein Schreiber“.
Bereits eine kleine Geste oder Unterlassung kann in einem Staat, der absolute Sicherheit und Ordnung erzwingen will, zum Zeichen von Widerstand und Verweigerung werden und den Menschen als Individuum erkennbar machen. Eindrücklich bewusst wird uns das zum Beispiel bei der Betrachtung eines Fotos aus dem Jahr 1936, das den Stapellauf des Segelschulschiffs „Horst Wessel“ in Hamburg zeigt: Adolf Hitler ist anwesend. Hunderte Menschen sind zu sehen. Und alle heben den Arm zum Hitlergruß. Bis auf einen Mann, der trotzig die Arme vor der Brust verschränkt – und durch diese Geste der Verweigerung in der Masse als Mensch sichtbar wird.
In der Verweigerung und dem Widerstand gegen den Staat, der alles zu ordnen und zu sichern beansprucht, wird eine Menschlichkeit sichtbar, die auch die eigentliche Anziehungskraft der Schwarzen Utopien ausmacht. Diese Bücher und Filme gewinnen ihr Publikum nicht in erster Linie, weil die Menschen sich vor der Zukunft fürchten. Sondern weil sie mit der Warnung vor der Zukunft eine Erzählung von Heldentum und Menschlichkeit verbinden.
Die Kraft der düsteren Geschichten liegt in ihren Heldinnen
Das gilt insbesondere für die seit einigen Jahren so erfolgreichen dystopischen Jugendromane. Sicher, die Zukunft wird hier in düsteren Farben gemalt. Die Kraft dieser Geschichten liegt aber in ihren Heldinnen, die sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung auflehnen („Hunger Games“), aus einem starren Kastensystem ausbrechen („Divergent“) oder sich einer eugenischen Familienplanung verweigern („Matched“). Sie wehren und verweigern sich der starren Ordnung ihrer Gesellschaft. Sie wollen ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen.
Anders aber als zum Beispiel Platon oder Huxley, die der Dystopie einen alternativen Gesellschaftsentwurf gegenüberstellen, fehlt es in diesen Schwarzen Utopien an der klaren Alternative. Im Gegenteil, die größte Unsicherheit, in die sich diese Menschen frei und willig begeben wollen, ist, dass sie keine vorgefertigten Antworten haben, wie sie eine bessere Welt gestalten wollen. Unausgesprochen handeln sie nach der gleichen Überzeugung wie einst die jugendlichen Widerstandskämpfer der „Weißen Rose“: „Ein Staat kann nicht rein theoretisch konstruiert werden, sondern er muss ebenso wachsen, reifen wie der einzelne Mensch.“
Mit Utopien ist kein Staat zu machen. Das ist eine der zentralen Botschaften von „The Hunger Games“ – dem erfolgreichsten Jugendbuch aller Zeiten. In dem Roman ist das Gegenmodell zu der bestehenden Diktatur wiederum eine Dystopie: Die alternative Gesellschaft, District 13, vereinigt in sich viele utopische Ideen unserer Gegenwart. Vorschriften zu gesunder Ernährung oder die strikte Bekämpfung der Verschwendung knapper Ressourcen. Aber das Streben nach absoluter Sicherheit führt dazu, dass auch diese Gesellschaft nur die „Sicherheit eines Gefängnisses“ bietet.
Ob es einen Weg in eine bessere, sicherere Gesellschaft gibt, bleibt hier im Ungefähren. Der Kampf für die Freiheit ist aber ein Ziel in sich. Es geht darum, die Unsicherheit abzuschütteln, in die der Staat die Menschen durch Zwang und Gewalt versetzt, und die Unsicherheit zurückzugewinnen, die mit der freien und eigenverantwortlichen Gestaltung seines Lebens verbunden ist. Mensch und Gesellschaft sollen wieder frei wachsen und reifen können. Und das bedeutet eben nicht: einem festen Plan und dem Prinzip Sicherheit zu folgen. Sondern tagtäglich zu lernen und sich selbstbewusst neuen Herausforderungen zu stellen.
Die Dystopie zu überwinden bedeutet, einen Raum der Freiheit zu erreichen. Der Mensch betritt eine neue Welt. In Christopher Nolans Film „Interstellar“ gilt dies sogar im wahrsten Sinne des Wortes: Wir entdecken einen neuen, unbewohnten Planeten, der vielleicht der Menschheit ein neues Heim bieten wird. Aber es ist unmöglich zu sagen, ob den Menschen hier ein besseres Zusammenleben gelingen wird. Schöne, unbekannte Welt!
Das ist, in seiner ganzen Zwiespältigkeit, das Prinzip Hoffnung, das sich mit diesen Erzählungen verbindet: Schwarze Utopien sind eine Warnung vor möglichen Gefahren unserer Zukunft. Sie sind eine Warnung davor, dass wir auf der Suche nach größerer Sicherheit unsere Freiheit und Menschlichkeit zu verlieren drohen. Aber sie tragen in sich auch stets die Erinnerung, dass der Mensch geboren ist, um Unsicherheiten auszuhalten und seine Zukunft frei zu gestalten – und das heißt auch: scheitern und Fehler zu riskieren. Denn nur indem wir aus Fehlern lernen, werden wir zu besseren Menschen und sicherer in dem, was wir tun.
Der Autor ist Senior Research Fellow am Brandenburgischen Institut für Gesellschaft und Sicherheit in Potsdam.
Dennis Schmidt-Bordemann
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