Zeichnungen aus dem Kupferstichkabinett Berlin: Zwischen Unterwelt und Zoo
Intim, spontan, modern: Die Zeichnung erfährt neue Aufmerksamkeit. Wir stellen einige selten öffentlich zu sehenden Kostbarkeiten aus dem Berliner Kupferstichkabinett vor.
Ob Hölle, Himmel, Tierwelt, Geistesgeschichte oder Wissenschaft – alles, was der Mensch sich so ausdenkt, wird auch in Bilder gefasst. Und zwar nicht erst, seit es Digitalkameras gibt. Einer der wichtigsten Orte der Welt, an dem von Menschenhand geschaffene Bilder gesammelt und aufbewahrt werden, ist, von der digitalen Krake Google mal abgesehen, das Kupferstichkabinett in Berlin.
Das Museum, 1831 gegründet und heute am Kulturforum beheimatet, beherbergt „Kunst auf Papier“ vom Mittelalter bis zur Gegenwart: 550 000 druckgrafische Arbeiten, 110 000 Zeichnungen, Aquarelle und Ölskizzen. Die Bandbreite reicht von der handgeschriebenen Bibel bis zum Siebdruck. Um nur einige der Schätze zu nennen: Das Haus besitzt die größte Rembrandt-Sammlung weltweit, 7000 Arbeiten von Karl Friedrich Schinkel, den Nachlass von Adolf Menzel, illuminierte Prachthandschriften aus dem Mittelalter und die größte Sammlung amerikanischer Nachkriegskunst in Europa.
Obwohl das Kupferstichkabinett regelmäßig Ausstellungen organisiert, mit vielen Museen kooperiert und Werke in alle Welt verleiht, ist die Sichtbarkeit seiner umfassenden Bestände vergleichsweise gering. Viele der empfindlichen Blätter dürfen nur selten ans Tageslicht. Hinzu kommt: Das Kupferstichkabinett ist eine Studiensammlung, der Schwerpunkt liegt auf dem Sammeln, Archivieren und Studieren von Zeichnungen und druckgrafischen Werken, nicht auf dem Zeigen. Im Studiensaal kann aber jeder Bilder ausleihen und in aller Ruhe betrachten. „Das nehmen Kunsthistoriker, Mediziner, Soziologen und Naturwissenschaftler in Anspruch, aber auch viele Künstler“, sagt Direktor Heinrich Schulze Altcappenberg. Regelmäßiger Besucher ist der amerikanische Maler David Hockney, ein großer Verehrer der Zeichenkunst Adolf Menzels.
Immer mehr Künstler sammeln leidenschaftlich Zeichnungen
Die Zeichnung erfährt zur Zeit wieder neue Aufmerksamkeit, gerade weil sie nicht für die Ewigkeit gemacht ist. Sie ist privater, kritischer, spontaner als ein Gemälde. Immer mehr Künstler, allen voran Georg Baselitz und Thomas Scheibitz, sind leidenschaftliche Sammler von Zeichnungen. Auch der Kunstmarkt reagiert. In diesem Herbst wurde im Berliner Auktionshaus Bassenge eine Zeichnung der deutschen Romantik für 2,6 Millionen Euro versteigert. Ein Superlativ. Das Blatt war zuvor vom Kupferstichkabinett an die Erben restituiert worden.
Das Haus, in dem 25 feste Mitarbeiter arbeiten, betreibt aktive Provenienzforschung: Rund 200 Werke wurden bereits zurückgegeben. Ansonsten wird die Sammlung kontinuierlich erweitert. Auch die Graphische Gesellschaft, der Freundeskreis des Kupferstichkabinetts, erwirbt regelmäßig neue Arbeiten, überwiegend aus der Zeit nach 1960. Einer der jüngsten Neuzugänge ist eine Zeichnung des Pop-Art-Künstlers Al Taylor – zusammen mit einigen anderen selten öffentlich zu sehenden Kostbarkeiten wird sie auf dieser Seite vorgestellt.
Sandro Botticelli: Kino im Kopf (1488)
200 Jahre nachdem Dante seine „Göttliche Komödie“ vollendet hatte, fasste der florentinische Künstler Sandro Botticelli den Plan, das 100-teilige Gedicht über Dantes Gang durch die Hölle, durch Fegefeuer und Paradies erstmals vollständig zu visualisieren. Sein Auftraggeber war Lorenzo di Pierfrancesco de’Medici.
Format, Detailreichtum und Individualität der Darstellung – kein Gesicht gleicht dem anderen, jede Kreatur hat ihren eigenen Ausdruck – übertreffen alles, was im Bereich der Buchillustration bis dahin gemacht worden war. Botticelli zeichnet Dantes Erzählung wie einen Film, ein Blatt schließt nahtlos an das nächste an. 18 Jahre arbeitete er an dem Zyklus. Dann signierte er auch die unfertig wirkenden Blätter. Es ist gut, wie es ist.
Das Kupferstichkabinett erwarb die Zeichnungen in einem spektakulären Ankauf aus der Sammlung des schottischen Herzogs Hamilton. Sogar ein Stück Ost-West-Geschichte hat sich inzwischen eingeschrieben. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Zyklus getrennt, das Paradies landete im späteren Kupferstichkabinett Ost, Hölle und Fegefeuer im Westen der Stadt. Erst nach dem Mauerfall kamen alle Teile im Kupferstichkabinett am Kulturforum wieder zusammen.
Albrecht Dürer, Rembrandt und Adolph Menzel.
Albrecht Dürer: Alter vor Schönheit, 1514
„Das ist meine Mutter als sie 63 war“, lautet Dürers handschriftliche Notiz auf dem Bild. Der Sohn muss die Mutter gebeten haben, den Schal etwas zu lüften – dass die Mutter sich so zeigt, ist jedenfalls ungewöhnlich für die Zeit. Dürer bildet die faltige Haut realitätsgetreu mit kräftigen Kohlestrichen ab.
Das Porträt ist das erste würdevolle Altersporträt in der Geschichte. Alte Menschen tauchten zuvor nicht in künstlerischen Darstellungen auf, es sei denn als Säufer oder Narren. Die eindringliche, sehr private Zeichnung zählt zu den bedeutendsten Werken des Nürnberger Renaissancekünstlers. Rudolph II, Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, besaß eine üppige Kunstsammlung, verehrte Dürer und kaufte dessen Nachlass. Im frühen 19. Jahrhundert kam die Zeichnung von dort nach Berlin.
Rembrandt: Die Bildfindung des Meisters, 1647
Eine junge Frau, mit feinen Gesichtszügen und erschrockenem Blick; während Rembrandt an dem weltberühmten Gemälde „Susanna und die beiden Alten“ malte (von 1635 bis 1647), fertigte er Studien von Frauenfiguren an, um Körperhaltungen und Gesichtsausdrücke zu probieren.
Diese Susanna-Studie sowie zwei weitere, die sich in Museen in Dresden und Budapest befinden, liefern einen Blick in Rembrandts Arbeitsprozess. Mit welchen Ausdrücken hat er gespielt? Was übernahm er in das Gemälde, was nicht?
Im März 2015 wird sich eine Ausstellung mit Rembrandts Bildfindungprozessen beschäftigen. Rembrandt-Experten des Kupferstichkabinetts und der Berliner Gemäldegalerie machten vor kurzem eine spektakuläre Entdeckung: Das Gemälde „Susanna und die beiden Alten“ aus der Gemäldegalerie wurde nachträglich von einem anderen Künstler umfangreich überarbeitet.
Adolph Menzel: Der Subjektive Blick, 1883
Der „Storch im Schilf“ stammt aus Adolph Menzels „Kinderalbum“. Dieses Album mit Zeichnungen, darunter viele Tierdarstellungen, fertigte der kinderlose Menzel für seine Neffen an; es war nicht zu deren Vergnügen gedacht, sondern als Kapitalanlage. Das Geld aus dem Verkauf der Werke sollte den Kindern zugute kommen.
Das bisher selten gezeigte „Kinderalbum“ eröffnet einen neuen Blick auf den privaten Menzel. Der Maler wählte hier eine ungewöhnliche Perspektive. Er zoomt dicht an den Storch heran, zeigt das Tier im Anschnitt und fast in Untersicht, als würde der zeichnende Künstler im Gras liegen. Selbst dieses Bild mit dem eigentlich unbeschwerten Motiv zeigt Menzels realistischen Blick auf die Welt. Die Farben sind düster, der Storch wirkt wie auf der Flucht.
Otto Dix und Al Taylor.
Otto Dix: Dem Freund ins Auge schauen, 1926
Diese großformatige Zeichnung zeigt den Dresdner Fotografen Hugo Erfurth, eine wichtige Künstlerpersönlichkeit in der Weimarer Republik, mit seinem Hund. Auf Basis dieses 1:1-Modells fertigte Otto Dix (1891–1969) das berühmte Gemälde seines Freundes an, das heute im Besitz des Museums Thyssen-Bornemisza in Madrid ist.
Der in Untermhaus bei Gera geborene Otto Dix gilt als Realist, der vor allem für seine Kriegsdarstellungen und für kritische dadaistische Gesellschafts-Collagen bekannt ist. Ohne Zweifel war er ein scharfer Beobachter, genauso wie sein Freund Hugo Erfurth, mit dem er diskutierte, welches Medium – Fotografie oder Malerei – die gültigere Darstellungsform sei. In seinem Bildnis von Hugo Erfurth zeigt Dix Hund und Herrchen als Partner. Der Hund mit hochgestellten Ohren und scharfem Blick ist in der Zeichnung als gleichberechtigte, vielleicht sogar dominante Figur angelegt, die die Charakterzüge ihres Besitzers spiegelt. In der kontrastreichen Zeichnung kommt diese Idee des Künstlers deutlicher zum Ausdruck als im späteren Gemälde.
Al Taylor: Amerika und Berlin, 1994
Die Zeichnung „Clear Cast Cans“ stammt vom US-amerikanischen Pop-Art-Künstler Al Taylor (1948–1999), der mit Alltagsobjekten wie Gartenschläuchen, Blechdosen oder Bohnen skulpturale Experimente veranstaltet, um die Beschaffenheit von Bildräumen zu erforschen. Auf diesem Blatt hat er seine Erkenntnisse zeichnerisch umgesetzt.
Der wegweisende Künstler, der von 1970 bis zu seinem Tod in New York lebte, verband die lapidare Geste der Pop-Art mit Bildtheorien. Das Berliner Kupferstichkabinett besitzt mehrere seiner Druckgrafiken – und diese erste Zeichnung von Al Taylor. Aufgrund der besonderen Verbindung zu Amerika spielen die zur massenhaften Verbreitung gedachten Druckgrafiken und Bilder der US-Nachkriegskunst für Berlin eine wichtige Rolle.
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