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Im Hinterzimmer der Macht. Daniel Day-Lewis ist Abraham Lincoln, der 1865 mit gekauften Stimmen das Verbot der Sklaverei durchsetzt. Spielbergs Historiendrama ist zwölffach für den Oscar nominiert und startet am Donnerstag in den deutschen Kinos.
© Twentieth Century Fox

Der Oscar-Favorit 2013: Zwielicht der Demokratie

Wie Amerika die Sklaverei abschaffte: Steven Spielbergs Politthriller „Lincoln“ mit Daniel Day-Lewis ist nur einer von zahlreichen hochpolitischen Filmen dieser Oscar-Saison. "Django Unchained", "Zero Dark Thirty", "Argo" - sie alle stellen die Frage: Heiligt der Zweck die Mittel?

Kaum auszudenken, wohin das ncoh führen wird, eines Tages, in 100 und noch mehr Jahren. Keine Sklaverei mehr? Dann dauert es nicht mehr lange und die Schwarzen haben gleiche Bürgerrechte, sie könnten Offiziere werden – und am Ende erhalten sogar Frauen das Wahlrecht!

Zwei Mal in diesem Film wird die Zukunft ausgemalt, als Hoffnungsvision, als Schreckensszenario. Als der Vorsitzende des Repräsentantenhauses auf dem Höhepunkt des Showdowns selber mit abstimmen will, begründet er sein außergewöhnliches Ansinnen so: „Das hier ist außergewöhnlich, das ist Geschichte.“ In der Tat ein historischer Moment: Am 31. Januar 1865 stimmen die Abgeordneten auf dem Kapitol über den 13. Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung ab, nachdem er neun Monate zuvor bereits den Senat passiert hat. An diesem 31. Januar wird in Amerika die Sklaverei verboten, ein für alle Mal. Auch der Bürgerkrieg ist bald zu Ende. Zweieinhalb Monate später wird auf Abraham Lincoln, den Mann, dem die USA den Frieden, die Einheit der Nation und den 13. Verfassungszusatz verdanken, ein Anschlag verübt. Er ist der erste amerikanische Präsident, der einem Attentat zum Opfer fällt.

Das Monument wird Mensch: Daniel Day-Lewis spielt Abraham Lincoln. Hohe, hagere Gestalt, noch höhere Fistelstimme, schlenkernde Gliedmaßen. Autoritäten sehen anders aus. Und klingen auch anders. Lincoln redet leise, brütet vor sich hin, grübelt, zögert, gibt selten direkte Antworten, erzählt lieber Geschichten aus seiner Anwaltszeit, Anekdoten, Witze. Wenn keiner lacht, lacht er selber. Als seine Ansprache einmal kein Ende findet, meint er nur: „Ich könnte kürzere Reden halten, aber wenn ich erst mal angefangen habe, bin ich zu faul, aufzuhören.“

Das Monument wird Mensch, liebender Ehemann, fürsorglicher Vater, einsamer Machtpolitiker – und bleibt in Steven Spielbergs 145-Minuten-Historiengemälde über die dramatischen Januartage 1865 doch immer auch ein Denkmal seiner selbst. Lincoln als Silhouette im Gegenlicht, das berühmte, täuschend echt nachmodellierte Profil, Ikonen eines Charismatikers. Dazu die verqualmten Hinterzimmer der Macht, ein legendenumflorter, mythischer Raum.

Oder Lincoln von hinten, so kommt er anfangs ins Bild. Ein schwarzer Unions-Soldat zitiert feierlich seine Gettysburg-Rede über den Grundsatz, dass alle Menschen gleich geschaffen sind. Lincoln als Wegbereiter von Obama-Country – gerade erst hat der 44. Präsident seinen zweiten Amtseid auf Lincolns Bibel abgelegt und erneut die Einheit der Nation beschworen. Scheu, ja ehrfürchtig nähert sich die Kamera dem 16. Präsidenten, diesem Halbgott der Amerikaner, den Walt Whitman mit Jesus Christus verglichen hat, denn auch Vater Abraham starb an einem Karfreitag. Oder Lincoln sitzt aufrecht, mit den Händen auf den Knien oder den Stuhllehnen, ganz so, wie jedes amerikanische Schulkind ihn vom Lincoln-Memorial in Washington kennt. Daniel Day-Lewis spricht unentwegt formvollendete Sätze, mit melodischem Bogen, feinem Rhythmus und tiefem Sinn – als stünden hinter dem Vorhang die Geschichtsschreiber und notierten jedes seiner Worte. Und als wollte der 55-jährige britisch-irische Star die Oscar-Academy auf sich aufmerksam machen: Seht her, habe ich nicht meinen dritten Goldjungen verdient, nach „Mein linker Fuß“ und „There Will Be Blood“?

Spielbergs Kostümepos ist mit zwölf Nominierungen Oscar-Favorit, auch Amerikas Filmkritiker jubelten nach dem Start im November. Sie bescheinigen dem Film meisterhaften Staatsbürgerkundeunterricht, würdigen die gelungene Vision von Politik als „Dialektik des Erhabenen und des Profanen“ („New York Times“) sowie Spielbergs zurückhaltende Regie. Obwohl es sich nicht um Actionhelden, sondern um Talking Heads handelt, liebt auch das Publikum diesen „Lincoln“ – der laut „Time“-Magazin über 300 Kinovorgänger hat. Bisheriges Einspiel in Amerika: 162 Millionen Dollar.

Politik, das sind die Tricks des Taktikers Lincoln - und Saalschlachten im Repräsentantenhaus

Radikalrepublikaner. Damals waren die Republikaner die Fortschrittlichen im amerikanischen Kongress. Hier Tommy Lee Jones als Thaddeus Stevens, ein glühender Verfechter der Rassengleichheit.
Radikalrepublikaner. Damals waren die Republikaner die Fortschrittlichen im amerikanischen Kongress. Hier Tommy Lee Jones als Thaddeus Stevens, ein glühender Verfechter der Rassengleichheit.
© Twentieth Century Fox/dpa

Zwar beginnt es wie „Saving Private Ryan“, mit einer Schlammschlacht des Sezessionskriegs. Mann gegen Mann, Bajonette bohren sich in Soldatenleiber, Blut mischt sich mit Dreck, mit Regen. Aber die meisten Schlammschlachten werden auf dem Kapitol ausgetragen und im Kabinett: Rededuelle, Saalgefechte, ein schmutziger Krieg der Wörter. Man sitzt eng beieinander, kungelt und kontert, wütet und brüllt, wünscht dem Gegner die Pest an den Hals, beschimpft ihn als Ungeziefer und Untermenschen, dreht dem anderen aus dessen Argumenten einen tödlichen Strick. Großes Polittheater, das sind die besten Momente dieses mit über 140 Rollen opulent besetzten Kammerspiels. Das Script schrieb Tony Kushner („Angels in America“, „München“), es basiert auf Doris Kearns Goodwins Buch „Team of Rivals“, dessen Titel wiederum auf Lincolns Kunst anspielt, Gegner zu Verbündeten zu machen. So machte er William Seward (David Strathairn), seinen Rivalen bei der Präsidentschaftskandidatur 1860, zum Außenminister. Das Gleiche tat Barack Obama mit Hillary Clinton.

Lincoln, der Taktiker. Zwar läuft Spielbergs Film auf eine patriotische Hagiografie hinaus, an deren Ende man tränenüberströmt aufstehen, das Sternenbanner schwenken und die US-Hymne anstimmen möchte. Die Schattenseiten der Demokratie zeigt er allerdings auch. Kushner und Spielberg taten gut daran, den Plot auf jene Wochen zu konzentrieren, in denen Lincoln und Seward auf Stimmenfang gehen, um jeden Preis. Das vergisst man ja leicht: dass Lincoln Republikaner war und die Demokraten das konservative Lager stellten. Und dass die Abschaffung der Sklaverei fast einer Verschwörung gleichkam. Der Präsident macht sich die Finger schmutzig, hier schönt der 66-jährige Regisseur keineswegs, der mit „Schindlers Liste“ und „Der Soldat James Ryan“ schon öfter Männer gewürdigt hat, die auf vermeintlich verlorenem Posten Heldentaten vollbrachten.

20 Stimmen fehlen zur nötigen Zweidrittelmehrheit im Repräsentantenhaus, dann neun, schließlich noch zwei. Also werden Posten verschachert, Demokraten bestochen, Finten und Halbwahrheiten in Stellung gebracht. Ein echter Politthriller: Die drei halbseidenen Stimmenfänger (James Spader spielt einen davon) könnten von Shakespeare und Mark Twain gemeinsam erfunden sein.

Das schwierigste, zweifelhafteste Manöver: Sollte der Bürgerkrieg vor der Abstimmung zu Ende sein, dürften selbst die Republikaner nicht mehr geschlossen für das Sklavereiverbot votieren. Vielen war nicht an Rassengleichheit gelegen, sondern daran, dass der blutige Krieg aufhört – etwa indem man den Konföderierten jeden Grund zum Weiterkämpfen nimmt. Also muss Lincoln den Krieg noch ein wenig fortsetzen, obwohl er damit auch das Leben seines eigenen Sohns riskiert, und die Nachricht zurückhalten, dass eine Friedensdelegation der Südstaatler bereits in Washington weilt. Er lügt nicht offen, behilft sich aber mit einer Wortklauberei.

Schöne Szene, wie er im Weißen Haus sitzt, während im Kapitol die Fetzen fliegen und drei Delegierte mit dem Fragezettel des Vorsitzenden zu ihm rennen, einer fällt der Länge nach hin, ein anderer schafft es außer Atem als Erster – und rast mit Lincolns Antwort gleich wieder zurück. So war das vor Erfindung der SMS. Schöne Szene auch, in der Lincolns kränklich-hysterische, aber hochintelligente und ebenbürtige Frau Mary (Sally Field) dem Radikalrepublikaner Thaddeus Stevens (großartig stur: Tommy Lee Jones) bescheinigt, es werde doch noch ein Politiker aus ihm. Stevens hat in der Debatte gerade seiner tiefen antirassistischen Überzeugung widersprochen, um schweren Herzens ein mehrheitsfähiges Argument ins Feld zu führen.

Nun streiten sich die Historiker durchaus darüber, ob Lincoln tatsächlich ein Überzeugungstäter und leidenschaftlicher Kämpfer gegen die Sklaverei war, ob er nicht vor allem den elenden Krieg beenden wollte. Verbürgt ist lediglich, dass er beides vollbrachte. So oder so ist es kein Zufall, dass in der aktuellen, hochpolitischen Oscar-Saison etliche Filme ihr Sujet auf die Frage zuspitzen: Heiligt der Zweck die Mittel?

Darf man Stimmen kaufen und die Demokratie korrumpieren, um die Sklaven per Gesetz zu befreien? Aber ja. Darf sich ein Sklave, wie in Quentin Tarantinos „Django Unchained“, den Weg in die Freiheit ballern, mit allen trashigen Mitteln des Spaghettiwesterns? Aber unbedingt – zumal gleich zwei Kassenschlager („Django“ spielte bislang 140 Millionen Dollar ein) pünktlich zur Wiederwahl Barack Obamas das Ende der Sklaverei proklamieren. Darf Hollywood sich mit dem Geheimdienst verbünden, um Geiseln aus dem Iran zu befreien, wie in Ben Afflecks „Argo“? Warum nicht für die gute Sache lügen? Und soll, siehe Kathryn Bigelows „Zero Dark Thirty“, der CIA Gefangene foltern, um auf die Spur Osama bin Ladens zu kommen? Es sind wie gesagt keine kleinen, tapferen ArthouseFilme, in denen all das verhandelt wird, sondern die Oscar-Kandidaten. Und, das nur nebenbei: Darf jener coole Pilot, der mit einem Kopfüberflug fast 100 Menschenleben rettet, ein schwerer Alkoholiker sein, wie Denzel Washington in „Flight“? Okay, er kommt nicht ungestraft davon, aber was für ein Prachtkerl!

Der Zweck, das sind Freiheit, Gleichheit, Sicherheit, das nackte Überleben. Die Mittel: unredlich, halblegal, illegal. Während Amerika erneut soziale und politische Zerreißproben erlebt, fragen Topstar-besetzte Hollywoodfilme nach der Integrität der Demokratie und der Macht. Danach, ob sauber bleiben kann, wer Land und Leuten dienen will.

Es ist was faul im Staate. Die Filme artikulieren dieses Unbehagen und erkunden, wo die moralische Grenze überschritten wird. Schachern und Tricksen mag zur Demokratie gehören, nicht aber Waterboarding. Was die Sklaverei betrifft, verraten sie obendrein, dass der Revolverheld Django und der gewiefte Staatsmann Lincoln einander ähnlicher sind, als man denkt. Beide tun, was sich nicht geziemt, den Menschenrechten zuliebe.

Kaum auszudenken, wohin das führt: Bis zum Frauenwahlrecht dauerte es nicht mal 100 Jahre. In Amerika wurde es 1920 eingeführt, mit dem 19. Verfassungszusatz.

Ab Donnerstag, den 24. Januar, in 11 Berliner Kinos. OmU: Hackesche Höfe, Rollberg; OV: Cinestar Sony-Center.

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