zum Hauptinhalt
Die Breslauer Zwerge sind eine Touristenattraktion. Diese beide hier – „Polonikus“ und „Germanikus“ – feiern die deutsch-polnische Freundschaft.
© picture alliance/dpa/Eva Krafczyk

Projekt "Breslau-Berlin 2016": Zusammenwachsen über Grenzen hinweg

Berlin und Breslau verband vor 1945 viel. Nun könnten alte Bande neu geknüpft werden.

Berlin und Breslau (polnisch Wroclaw) – das ist eine jahrhundertealte Geschichte engster Verbindungen. Aus der damals drittgrößten deutschen Stadt strömten vor allem im 19. und dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Neubürger nach Berlin. Das veranlasste Kurt Tucholsky 1921 zu seinem berühmt gewordenen Ausspruch „Der richtige Berliner stammt entweder aus Posen oder Breslau“.

Der Arbeiterführer Ferdinand Lassalle kam ebenso aus Breslau wie der frühere Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz. Mit Paul Löbe und Wolfgang Thierse fanden zwei Präsidenten des Reichstags beziehungsweise des deutschen Bundestags ihren Weg nach Berlin. Unternehmer wie Borsig, Architekten wie Langhans, der Erbauer des Brandenburger Tores, Hans Poelzig oder Hans Scharoun prägten das Erscheinungsbild beider Städte.

Künstler wie Adolph von Menzel, Bernhard Heisig oder Otto Mueller, Theologen wie Schleiermacher oder Bonhoeffer, Wissenschaftler wie Fritz Haber haben in beiden Städten gewirkt. Die Alte Nationalgalerie hat gerade dem Schriftsteller und Maler August Kopitsch eine viel beachtete Ausstellung gewidmet. Dieser Austausch war stets eine Zweibahnstraße. Es gab immer wieder Zeiten, in denen sich neue Ideen im liberalen Umfeld von Breslau leichter realisieren ließen.

Der Berliner Mutterwitz hätte ohne schlesischen Einfluss nicht seine Raffinesse erlangt

Mit schlesischem Sandstein verkleidet sind Brandenburger Tor, Französischer Dom, Reichstag und viele andere öffentliche Gebäude in Berlin. In den Gründerzeitvierteln von Breslau und Berlin haben sich die typischen Gehwege aus großen schlesischen Granitplatten erhalten. Der Berliner Mutterwitz hätte ohne starken schlesischen Einfluss nicht seine Raffinesse und damit Berühmtheit erlangt.

1945 sind die engen Bindungen beider Städte und der sie umgebenden historischen Landschaften Brandenburg und Niederschlesien zerschnitten worden. Breslau ist weltweit die einzige Stadt dieser Größe, die durch Flucht und Vertreibung einen vollständigen Bevölkerungsaustausch erlebt hat. Konnte man 1937 die 330 Kilometer zwischen Berlin und Breslau mit dem Zug in zweieinhalb Stunden bewältigen, so wurde 2014 die letzte direkte Bahnverbindung eingestellt.

Aber die Wende ist eingeleitet: Seit dem 30. April gibt es zumindest am Wochenende in den nächsten Monaten den "Kulturzug", der Berlinern die Gelegenheit gibt, ohne umzusteigen die Europäische Kulturhauptstadt Breslau zu besuchen. Berlin hat dort mit vielfältigen kulturellen Beiträgen den bei Weitem größten Auftritt aller ausländischen Städte.

Manchmal erreichen die Menschen mehr als staatliche Instanzen

Zu Recht und mit Absicht. Die starke Berliner Präsenz ist auch ein Signal der Berliner Zivilgesellschaft an die Bürger von Breslau: Lasst uns trotz staatlicher Grenzen und einer schwieriger gewordenen politischen Großwetterlage zwei historische Landschaften wieder enger miteinander verflechten. Manchmal vermögen die Bürger auf anderen Wegen mehr als staatliche Instanzen und allgegenwärtige Bürokratie.

Beispiele, wie man das machen kann, sind etwa die Regionen Oberrhein oder der Verbund Saarland, Lothringen und Luxemburg, wo das Zusammenwachsen über die politischen Trennlinien hinweg von „unten“ getragen wird. Erleichtert wird dies durch den inzwischen recht ungezwungenen Umgang des polnischen Wroclaw mit seiner deutschen Vergangenheit. Die neun Nobelpreisträger vor 1945 sind längst ebenso selbstverständlicher Teil der Stadtgeschichte wie die sorgfältig restaurierten historischen Gebäude mit ihren immer zahlreicher werdenden deutschen Inschriften.

Jeder, der in den nächsten Wochen und Monaten Breslau besucht, trägt zur engeren Verflechtung beider Städte und Regionen bei. Jeder Besucher wird entdecken, dass Breslau nicht nur als Stadt viel zu bieten hat, sondern auch zu einer immer stärkeren Quelle wird für kreative Ideen in Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft. Beste Voraussetzungen also für den Aufbau einer neuen Zweibahnstraße.

Der Autor war deutscher Botschafter in Warschau und ist Verantwortlicher für die Initiative „Nachbarn in Europa“ der Stiftung Zukunft Berlin.

Reinhard Schweppe

Zur Startseite