Daniele Gatti beim Musikfest Berlin: Zupacker mit zarten Fingern
Daniele Gatti leitet furios das Amsterdamer Concertgebouw-Orchester. Nun kommt der italienische Dirigent mit seinem Ensemble zum Berliner Musikfest.
Der Chef eines Spitzenorchesters ist zu beneiden. Er darf jeden Tag tun, was er am meisten liebt: grandiose Musik studieren, hören, aufführen. Der Chef eines Spitzenorchesters ist zu beneiden? Vielleicht auch nicht. Von ihm – meist sind es immer noch Männer – wird mehr erwartet als von Dirigenten, die weniger im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Dabei wandelt er auf schmalem Grat. Nicht nur Gesicht und Stimme seines Orchesters soll er sein, auch Lordsiegelbewahrer, Hüter der Tradition und des spezifischen Klangs. Seine Funktion ist mit der eines Priesters vergleichbar, der die Werke des Kernrepertoires auslegt und hilft bei der Verständigung darüber, was die Musik von Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner, Berg eigentlich heute noch bedeuten soll. Zugleich muss er innovativ sein, den Weg in die digitale Zukunft weisen, zeitgenössische Stücke aufführen und mit seinem Namen für deren Qualität einstehen. Ist er auch noch Medienstar, schadet das nicht. Karajan hat alles vorgemacht.
Daniele Gatti ist seit einem Jahr, seit Beginn der Saison 2016/17, in solch einer Position – als Chefdirigent des Concertgebouw-Orchesters Amsterdam, das am 6. September zum Berliner Musikfest kommt, mit Werken von Wolfgang Rihm und Anton Bruckner. Seine Wahl war ein Paukenschlag, so richtig auf dem Schirm hatte den 56-Jährigen niemand. Dabei hat er die Grand Tour gemacht und alles kennengelernt, was sein Heimatland Italien musikalisch zu bieten hat: am Conservatorio Giuseppe Verdi seiner Geburtsstadt Mailand studiert, an der Scala dirigiert und in Venedig im Teatro La Fenice, dann wurde er Chef des Orchesters der Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom, eines der profiliertesten Orchester des Landes. Später ging er zum Royal Philharmonic Orchestra nach London und ab 2008, in Nachfolge von Kurt Masur, zum Orchestre National de France.
Das Ensembe ist offen für neue Interpretationen
Aber das Concertgebouw-Orchester! Das spielt in einer eigenen Liga – und ist für die Niederlande so wichtig wie die Berliner Philharmoniker in Deutschland und die Wiener Philharmoniker in Österreich als die nationalen Orchester schlechthin. Sein süffig-reiner Streicherklang, der viel mit der stupenden Akustik des Amsterdamer Konzertsaals zu tun hat, nach dem das Orchester benannt ist, wird weltweit gerühmt. Gatti tritt hier die Nachfolge solch illustrer Maestros an wie Willem Mengelberg, der von 1895 bis 1945 gewirkt hat, Bernard Haitink (1963–1988), Riccardo Chailly (1988 –2004) und zuletzt Mariss Jansons (2004–2015). Jetzt ist er Teil dieser Ahnenreihe. Als Gast stand Gatti erstmals 2004 am Pult der Amsterdamer – für Verdis „Falstaff“. Das nämlich ist ein niederländisches Spezifikum: Die Oper hat kein eigenes Orchester, die Spitzenorchester des Landes bestreiten abwechselnd die Aufführungen, einmal im Jahr auch das Concertgebouw.
Was ging ihm nach seiner Wahl durch den Kopf? Im Gespräch wirkt es, als wüsste er: Es braucht nicht viele Worte, um die Bedeutung des Augenblicks zu würdigen. „Eine absolute Ehre“, sagt Gatti, „und es geschah genau im richtigen Moment in meinem Leben.“ Ein „fantastisches Instrument“ sei sein neues Orchester, mit ganz eigener Persönlichkeit: viele junge Musiker, jovial und bezaubernd in den Proben, verlässlich im romantischen Kernrepertoire. Und extrem flexibel, offen für neue Interpretationen. „Das Orchester sagt nicht: Wir haben das jetzt 80 Jahre so gemacht, also bleibt es dabei.“
Gatti ist ein Macher, ein Zupacker
Im Juni hat Daniele Gatti während der Dresdner Musikfestspiele in der Frauenkirche das Mahler Chamber Orchestra dirigiert, mit Beethovens zweiter und sechster Symphonie und Alban Bergs Violinkonzert. In den Proben konnte man ihn gut bei der Arbeit beobachten. Die kräftigen Oberarme etwa, die sich unterm Polohemd spannen. Er wirkt wie ein Macher, ein Zupacker. Aber einer, der trotzdem zarte Finger besitzt, mit Gespür und Sensibilität für Klangfarben. Beim Mahler Chamber Orchestra – ein einst von Claudio Abbado gegründetes Kammerorchester – engagiert er sich aus Passion, er bewundert die „wilde“ Entschlossenheit, mit der die rund 45 Mitglieder gemeinsam Musik machen. Seit 2016 ist er dort „Artistic Advisor“, ein Ehrentitel. Offiziell darf er neben dem Concertgebouw keine weiteren Leitungsfunktionen haben.
Jetzt also Berlin: Beim Auftritt am Mittwoch in der Philharmonie steht Wolfgang Rihms „In-Schrift“ auf dem Programm, eine Hommage an Claudio Monteverdi, entstanden für eine Aufführung im Markusdom, wo Monteverdi bekanntlich Kapellmeister war. Der sakrale Raum ist dieser Musik eingeschrieben, und das verbindet sie mit Bruckners letzter, unvollendeter Symphonie, der Neunten. Seit der Gründung 1886 gehörten Bruckners Werke quasi zur DNA des Concertgebouw-Orchesters, deshalb wird es von besonderem Reiz sein, gerade diese Musik von diesem Ensemble zu hören – und das unter seinem neuen Chef. Gatti erzählt, dass er die Neunte als 14-Jähriger zwischen den Platten seines Vaters entdeckt und seither geliebt hat. Trotzdem dauerte es lange, bist er Bruckner auch als Dirigent aufführen konnte. Die Zweite, Fünfte und Sechste hat er bis heute nicht dirigiert. Warum? „Es gibt Komponisten und Werke, für die man sich noch nicht bereit fühlt, bei denen man sich keine Experimente leisten kann“, findet er. Und zählt Beethovens Missa Solemnis dazu, Mozarts Requiem – und eben Bruckners Symphonien.
Die Musiker des Concertgebouw neben dem Bundesjugendorchester
Hört man die Musik des hochkatholischen, als kauzig geltenden österreichischen Organisten in Italien anders? Gatti schwankt in seiner Meinung. Einerseits weiß er natürlich, dass solche nationalen Grenzen gerade in der Kunst Unsinn sind, dass man in Italien nicht nur Verdi, Rossini und Puccini hört – sein eigener Vater beweist es ja am besten. Andererseits glaubt er schon, dass Italiener, gerade weil sie keine so ausgeprägte Bruckner-Tradition haben, offener, unvoreingenommener und damit aufnahmebereiter sind für Bruckners aus Tönen errichteten Klangkathedralen.
Noch ein dritter Komponist wird am Mittwoch erklingen: Carl Maria von Weber. Vorangestellt wird dem Konzert nämlich die „Euryanthe“-Ouvertüre. Das Besondere dabei: Nur die Hälfte des Orchesters gehört zum Concertgebouw. Sie werden Pult an Pult mit jungen Musikern des Bundesjugendorchesters spielen. „Side by Side“ nennt sich das Projekt: Das Concertgebouw besucht alle Länder der EU und tritt überall mit einem lokalen Jugendorchester auf. „Ich will nicht in Klischees sprechen“, erklärt Gatti, „aber dieses Projekt transportiert eine nach wie vor sehr wichtige Botschaft: Alle Menschen werden Brüder.“ Die Europa-Hymne. Dass die EU gerade die größte Krise ihres Bestehens durchmacht, weiß er natürlich auch. Und hofft inständig, dass sie nicht auseinanderbricht. Gatti, geboren 1961, weiß noch, wie Europa war, bevor die EU gegründet wurde. Ein Zustand, den er sich um nichts in der Welt zurückwünscht.
Das Concertgebouw-Orchester spielt am 6. 9. um 20 Uhr in der Philharmonie.