Autorencomic: Zum Überleben verdammt
Weitermachen in einer Welt, die zur Hölle geworden ist – der aktuelle 15. Band von „The Walking Dead“ bietet Anlass, die brillante amerikanische Zombie-Serie in ihrer Gesamtheit genauer zu betrachten.
Eine Seuche, deren Ursprung unbekannt ist, hat die meisten Menschen in Zombies verwandelt. Wer ihnen begegnet und nicht schnell genug ist, wird aufgefressen oder durch einen Biss in die Horden der Untoten eingereiht. Es ist das Ende der Zivilisation, ein verzweifelter, von Aussichtslosigkeit bedrohter Überlebenskampf der wenigen gegen die vielen.
So kennt man es aus vielen Filmen, seit George A. Romeros „Night of the Living Dead“ (1968). Auch die Serie „The Walking Dead“, die in den USA seit Oktober 2003 monatlich bei Image Comics erscheint und deren Sammelbände auf Deutsch bei Cross Cult veröffentlicht werden, wiederholt auf den ersten Blick nur das skizzierte Muster. Und doch ist sie außerordentlich aufregend und innovativ. So episch wie hier, mit einer solchen Verbindung von Einfallsreichtum und Genauigkeit wird selten erzählt: Ein Zombie-Film ist nach höchstens zwei Stunden zu Ende, und die allermeisten Comic-Serien sind in kürzere oder längere Story Arcs eingeteilt – in „The Walking Dead“ aber entfaltet Robert Kirkman, der Autor, ab dem ersten Heft eine große, zusammenhängende Geschichte, deren Ende noch nicht abzusehen ist.
Alltag in der Postapokalypse
Zu Beginn von „The Walking Dead“ erwacht der Polizist Rick Grimes, der in Ausübung seines Berufes schwer verletzt worden ist, nach mehreren Wochen aus dem Koma. Überall wimmelt es plötzlich von Untoten. Mit seiner Familie, die es ihm wiederzufinden gelingt, und einer kleinen Gruppe, deren Anführer er wird, zieht er fortan umher, immer auf der Suche nach einem möglichst sicheren Unterschlupf – und immer von Neuem auf der Flucht. Auch „Dein Wille geschehe“, der aktuelle Band von „The Walking Dead“, zeigt, dass es für die Überlebenden keine dauerhafte Ruhe gibt. Zwar ist es ihnen gelungen, einen großen Zombie-Angriff abzuwehren, an den psychischen Folgen dessen, was hinter ihnen liegt, haben sie aber gehörig zu knabbern.
Die Handlung in „The Walking Dead“ entwickelt sich aus den verschiedenen Orten, an denen Rick und seine Gefährten sich jeweils befinden. Anfangs halten sie sich im Freien auf, dann finden sie Zuflucht unter anderem auf einer Farm, in einem riesigen Gefängnis und in einer ehemaligen Mustersiedlung. Jeder dieser Orte hat seine Eigenarten und stellt die Bewohner vor bestimmte Herausforderungen: So gilt es stets, sich auf verschiedene Weise vor den Zombies zu schützen, aber auch die Nahrungsversorgung sicherzustellen, sei es durch Konserven oder primitiven Ackerbau. Topographisches und Alltägliches spielen in „The Walking Dead“ daher eine gleichermaßen große, für einen Genre-Comic eher ungewöhnliche Rolle.
Splatter – nein danke?
Dies heißt allerdings nicht, dass „The Walking Dead“ ohne all den Splatter auskommt, der Zombie-Fans lieb und teuer ist. Kein Band, in dem nicht mit Axt und Schwert, mit Gewehr und Pistole mindestens ein paar Dutzend Untoten der Garaus gemacht wird. Knochen krachen, Hirn spritzt, Eingeweide quellen hervor – und doch ist dies zeichnerisch vergleichweise dezent inszeniert. Die mit Grautönen versehenen Schwarzweißbilder von Charlie Adlard und Cliff Rathburn deuten oft mehr an, als dass sie detailfreudig auf die Magengrube des Lesers zielen.
Von dieser Regel gibt es einige wenige spektakuläre Ausnahmen. Die Szenen im sechsten Band etwa, in denen Michonne, die tapferste Kämpferin der Gruppe, an dem bösartigen „Gouverneur“, der sie vergewaltigt und gefoltert hat, bestialische Rache nimmt, stehen in ihrer Drastik Filmen wie „Saw“ oder „Hostel“ nicht nach. Reiht man diese seltenen, extremen Gewaltausbrüche in die Gesamtheit der Serie ein, gewinnt man aber den Eindruck, dass Kirkman sie nur zum Teil um ihrer selbst willen einflicht. Sie dienen ihm eher dazu, ein permanentes Klima der Unsicherheit zu erzeugen.
Allgegenwart des Todes
Kirkman spielt geschickt mit der Antizipationsfähigkeit des Lesers, vor allem, wenn diesem die Serie vertraut ist. Sich in „The Walking Dead“ auszukennen, bedeutet nicht, gelassen lesen zu können, sondern genau das Gegenteil. Es bedeutet, alarmiert auf Details zu reagieren: Ein Junge hat ein blaues Auge, ein älterer Mann macht einer jungen Frau allzu offensiv Avancen – was verbirgt sich dahinter? Man muss nicht immer etwas Schlimmes befürchten, aber oft zumindest etwas Unerwartetes.
Höchst unsicher sind auch die Überlebenschancen so gut wie aller Figuren. Fast jeden kann es hier erwischen, auch wenn er oder sie schon lange dabei ist – das trifft dann den Leser umso härter. So viel Gnadenlosigkeit muss ein Erzähler sich in kreativer Hinsicht erst einmal leisten können; schließlich müssen ja neue, interessante Figuren erfunden werden. Aber das ist Kirkman bislang stets leicht gefallen. Im Extremfall ließe sich sogar vorstellen, dass „The Walking Dead“ ohne Rick Grimes auskommen könnte; eine Möglichkeit, die der Autor in einem Interview, das im zehnten Band nachzulesen ist, übrigens nicht völlig ausgeschlossen hat.
Hiob des Horrors
Am wichtigsten in „The Walking Dead“ ist, was in den Köpfen der Figuren vorgeht, ist der Human Factor. Nicht nur von den Zombies geht Gefahr aus, sondern auch von den Überlebenden, zum Teil sogar innerhalb von Ricks kleiner Gruppe. Auf wen wirklich Verlass ist, wem man vorbehaltlos trauen kann – das ist oft alles andere als klar. Zugleich verzichtet Kirkman aber weitgehend auf die Dichotomie von Gut und Böse. Zu den wenigen Schurken klassischen Zuschnitts zählt bisher der „Gouverneur“. Aber selbst er hat mehrere Seiten: Er ist nicht nur bereit zu unermesslicher Brutalität, sondern auch Vater eines kleinen Zombie-Mädchens, das er als Zeugnis eines früheren, wohl glücklicheren Lebens heimlich in seiner Wohnung hütet.
„The Walking Dead“ zeichnet das Porträt einer Gruppe, aber die unbestrittene Hauptfigur ist doch Rick Grimes. Er ist ein Schmerzensmann, ein Hiob des Horrors, mit dem Kirkman das Konzept des gebrochenen Helden in radikaler Weise umsetzt. Im Laufe der Serie verliert Rick nacheinander nicht nur fast alle Menschen, die ihm nahestehen, er wird auch physisch und psychisch immer mehr ramponiert. Hat es in einem amerikanischen Comic schon einmal einen Helden gegeben, der ein kaputtes Telefon mit sich herumschleppt, weil er glaubt, mit dessen Hilfe seine toten Frau anrufen zu können? Dass Kirkman solche Szenen gelingen, ohne ins Melodramatische oder Lächerliche abzustürzen, zeigt, was für ein großer Erzähler er ist.
Handeln in Extremsituationen
Rick kommt es primär auch zu, die ethischen Konsequenzen der Handlungen, zu denen er und die Gruppe gezwungen werden oder zu denen sie sich hinreißen lassen, zu reflektieren. Mit Erschrecken muss er mehrfach erkennen, wozu Menschen unter dem Druck der Umstände fähig sind. Richtig und Falsch erweisen sich als relative, je nach Situation verhandelbare Größen. In „Dein Wille geschehe“ etwa, wo es sehr wenig Action und stattdessen viele Gespräche gibt, stellt Rick fest, dass es im Verhältnis seiner Familie zur Gruppe eine Dialektik gibt, die ihm entgangen ist. Bislang war er vor allem darauf, aus die Seinen zu schützen; jetzt wird ihm klar, dass dies umso besser gelingen kann, wenn ihm auch das Wohl aller am Herzen liegt.
Was bedeutet es für Menschen, in Extremsituationen bestehen zu müssen? Das ist die zentrale Frage, die „The Walking Dead“ immer wieder aufwirft. Seit fast neun Jahren zählt diese Serie zu den besten amerikanischen Mainstream-Veröffentlichungen. Es sieht ganz so aus, als könnte dies noch eine gute Weile so bleiben. Im Herbst erscheint der 16. Band auf Deutsch – die Zeit bis dahin wird sich ziehen.
Robert Kirkman / Charlie Adlard / Cliff Rathburn: The Walking Dead, Band 15: Dein Wille geschehe, CrossCult, 145 Seiten, 16 Euro. Mehr Informationen und Leseproben auf der Website des Verlages. Die Website zur TV-Verfilmung findet sich hier.
Christoph Haas
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