Kultur: Zum Tode von Hans Mayer: Die Kunst des offenen Schlusses
Da er seinen Acker gut bestellt hatte, konnte er auf eine reiche Ernte zurückblicken. Bis zuletzt blieb er ein gefragter Redner, ein brillanter Schriftsteller.
Da er seinen Acker gut bestellt hatte, konnte er auf eine reiche Ernte zurückblicken. Bis zuletzt blieb er ein gefragter Redner, ein brillanter Schriftsteller. Und auch nachdem sein Opus magnum, "Die Außenseiter" (1976), sein abschließendes Thomas-Mann-Buch, seine Reden und Memoiren im Druck vorlagen, hielt er sein Wirken noch lange nicht für "vollendet". Seine Veröffentlichungen betrachtete er als "Studien", als vorläufige Bestandsaufnahmen, nicht als abschließende Erinnerungsarbeiten.
Auch seine Streitlust erlahmte nie. Hans Mayer schämte sich seiner Irrtümer nicht, er korrigierte sie. Gleichzeitig machte er aus seinem Marxismus nie einen Hehl und lehnte es ab, sich von ihm loszusagen, wenn es opportun war. Gleichzeitig war er als Literat und politischer Denker, einer der größten des 20. Jahrhunderts, immer darauf bedacht, dass seine Lebensrechnung nicht ganz aufging. In seinen Büchern bevorzugte er den offenen Schluss: keine Resignation, sondern ein leidenschaftliches "dennoch". Sehr gerne griff er das Phänomen von "Zurücknahmen" auf, zum Beispiel im Werk von Brecht oder Dürrenmatt. Und er diskutierte es nicht unter dem Gesichtspunkt der entschuldigenden Verwerfung, sondern dem der beflügelnden Neu-Erkenntnis.
So blieb er ein streitbarer Intellektueller, Freund der Dichter und überzeugter Marxist. Ein "Widerruf" war von ihm nicht zu bekommen. Dennoch verstand er sich als "Deutscher auf Widerruf". Unter diesem Titel erschienen 1982 seine Lebenserinnerungen. Aber es war nicht Hans Mayer selbst, der den Widerruf aussprach, vielmehr wurde er 1938 per Ankündigung im "Reichsanzeiger" ausgebürgert; sein Deutschtum wurde also von Amts wegen widerrufen. Und da es seiner Überzeugng nach "kein Damals gibt, das nicht zugleich ein Heute wäre", bedeutete ihm das Geschehen etwas Unwiderrufliches.
Hans Mayer wurde am 19. 3. 1907 in Köln geboren, er studierte dort Jura und promovierte 1930 mit einer Arbeit über "Die Krisis der deutschen Staatslehre und die Staatsauffassung Rudolf Smends". Sein wichtigster Lehrer wird der Rechtswissenschaftler Hans Kelsen am Kölner Institut für Völkerrecht und Rechtsphilosophie. Erste Aufsätze des linkssozialistischen Studenten erscheinen im "Roten Kämpfer", einer marxistischen Zeitschrift für Arbeiter. Direkt nach dem Diplom in Berlin wird ihm 1933 die Entlassungsurkunde aus dem Preußischen Justizdienst überreicht. Hans Mayer flieht nach Frankreich.
Kelsen vermittelt ihm ein Forschungsstipendium an das von Frankfurt nach Genf übergesiedelte Institut für Sozialforschung; im Herbst 1934 holt ihn sein Lehrer an das Genfer Hochschulinstitut für Internationale Studien. Hier arbeitet Mayer mit dem Diplomaten und Historiker Carl J. Burckhardt zusammen und lernt den Journalisten und Literaturhistoriker Max Rychner kennen, der dem Emigranten die anonyme Mitarbeit bei Schweizer Zeitungen ermöglicht. Im Exil entsteht sein erstes bedeutendes Buch, "Georg Büchner und seine Zeit", das allerdings erst nach dem Krieg veröffentlicht wird. In den Schweizer Arbeitslagern, wo er während der Kriesjahre immer wieder interniert ist, lernt er Michael Tschesno und Stephan Hermlin kennen, mit denen er die Flüchtlingszeitschrift "Über die Grenzen" redigiert. Bis er im Herbst 1945 in die "deutsche Fremde" zurückkkehren kann.
Nach Kriegsende arbeitet Mayer zunächst als Rundfunkredakteur bei der Deutsch-Amerikanischen Nachrichtenagentur und wird von Golo Mann, der als amerikanischer Kulturoffizier fungierte, als Chefredakteur von Radio Frankfurt eingesetzt. Im Kalten Krieg geraten Mayers Kommentare beim amerikanischen Hauptquartier jedoch schnell in Misskredit. Deshalb übernimmt er 1947 eine Stelle als Dozent an der Frankfurter "Akademie der Arbeit"; 1948 folgt er einem Ruf an die Universität Leipzig. Noch herrscht "Gründerzeit" in der sowjetisch besetzten Zone, es gibt unliebsame Debatten und Auseinandersetzungen mit amtlichen Besserwissern, aber es ist doch eine Zeit beständiger geistiger Aufregung. Aber die konservative Institution behindert Mayer vielfältige und unkonventionelle Aktivitäten immer mehr: 1963 übersiedelt er nach Tübingen.
An Erfolg mangelt es Hans Mayer im Westen nicht. Aber von einer Wirkung seines Denkens und Protestierens spürt er kaum noch etwas. So tröstet er sich mit vermehrter schriftstellerischer Arbeit, er formuliert Thesen und Konzepte, die er oft nur stegreifartig anvisiert hatte, zu weiter ausgreifenden Abhandlungen aus, er schreibt literaturwissenschaftliche Erzählwerke wie "Die Außenseiter", "Das unglückliche Bewusstsein" oder "Don Juan und Faust". Sein letztes Buch, "Der Turm von Babel", ist der für ihn bezeichnende Versuch, das gescheiterte Experiment "DDR" nicht vom Ende her zu deuten, sondern die besonderen Umstände des Anfangs zu beachten, das im Hegelschen Sinn "Aufhebenswerte" zu bedenken. Hans Mayer, der - als Jude, Kommunist und Homosexueller - immer wieder Ausgegrenzte, blieb ein "Deutscher auf Widerruf". Und er blieb der Meinung, dass die nun verschwundene DDR noch lange eine deutsche Wunde bleiben werde. Die Frage nach einer alternativen Gesellschaft müsse deshalb umso dringender gestellt werden: "Man wird doch nicht behaupten können, dass der Ellenbogenkapitalismus eine im humanen Sinne menschenwürdige Gesellschaft ist."
In der Nacht zum Sonnabend ist Hans Mayer im Alter von 94 Jahren in Tübingen gestorben: dort, wo er im Westen angekommen war und wo er seit seiner Emeritierung 1973 gelebt und unermüdlich geschrieben hatte.
Klaus Völker
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