In Memoriam Claudio Abbado: Zu Ehren eines großen Humanisten
Ein Vierteljahrhundert lang prägte Claudio Abbado das Musikleben der italienischen Stadt Ferrara. Aus Dankbarkeit wird nun das dortige Teatro Communale nach dem im Januar verstorbenen Dirigenten benannt.
"Tortelli, gibt es Tortelli?" Immer wenn Claudio Abbado nach Ferrara kam, soll er zuerst nach seinen geliebten Nudeln mit Kürbiscremefüllung, einer lokalen Spezialität, gefragt haben. Anders als in Berlin, Wien oder London galt der vor zwei Monaten verstorbene Dirigent in der norditalienischen Kleinstadt immer auch als Mann des Volkes, aus respektvoller Distanz verehrt und allen doch sehr nahe.
Fast ein Vierteljahrhundert lang prägte Abbado das Musikleben Ferraras wie kein Zweiter und zog ein internationales Publikum an. Er kam mit weltbekannten Orchestern wie den Berliner Philharmonikern und schrieb mit Aufsehen erregenden Opernproduktionen Geschichte. Rossinis "Il Viaggio a Reims" in der Regie von Luca Ronconi und Mozarts Da-Ponte-Triologie bleiben ebenso unvergessen wie Verdis "Falstaff" und "Simon Boccanegra" oder Beethovens "Fidelio".
Wenn das Teatro Comunale am Freitag, den 21.3.2014 seinen Namen annimmt, ehrt die Stadt nicht nur einen großen Künstler, sondern auch einen Humanisten, der bis zuletzt an die gesellschaftsverändernde Kraft der Musik glaubte. Kritiker aus dem konservativen Lager, die Abbado Sympathiebekundungen für den damaligen kubanischen Staatschef Fidel Castro ankreideten, sind rasch verstummt.
Das Mahler Chamber Orchestra beschließt nun unter Leitung von Vladimir Jurowski eine Reihe von Gedenkkonzerten, die in diesen Tagen auch das Chamber Orchestra of Europe wieder auf die Bühne des kleinen Logentheaters aus dem 18. Jahrhundert gebracht hat. Die beiden Profi-Klangkörper, die aus Abbados Jugendorchestern hervorgegangen sind, haben ihrem Gründungsmentor seit Langem regelmäßige Aufenthalte in Ferrara verdanken.
"Als wir mit Claudio dort anfingen zu arbeiten, war jedes Projekt ein Traum", erklärt der Cellist Philipp von Steinaecker, eines der Gründungsmitglieder des Mahler Chamber Orchestra, das seit 1998 eine offizielle Residenz im Theater hat. Als Kern des Lucerne Festival Orchestra war es auch an dem Benefizkonzert beteiligt, das Abbado im September 2012 nach dem Erdbeben in der Emilia Romagna dirigierte. "Der Wiederaufbau darf die Stätten der Kunst nicht außer Acht lassen" , erklärte er unmittelbar nach der Katastrophe. "Denn die Kultur ist integraler Bestandteil des sozialen Gewebes, das durch das Beben zerrissen worden ist." Vier Monate danach war das Theater dank Abbados Engagement wieder voll funktionsfähig und konnte in die nächste Saison starten.
In der "roten" Region Emilia Romagna hatte der Dirigent bereits seit den sechziger Jahren institutionelle Unterstützung für soziale Musikinitiativen gefunden, die ein neues Publikum von Studenten und Arbeitern anziehen sollten. Nachdem er 1986 die Mailänder Scala im Streit verlassen hatte, kehrte er erst vier Jahre später als neu gewählter Chefdirigent mit den Berliner Philharmonikern in seine Heimat zurück. Ferrara war die erste Etappe, auf dem Programm standen unter anderem Schuberts "Unvollendete" und die Siebte Sinfonie von Beethoven.
Zwei Berliner Philharmoniker erinnern sich
Solo-Fagottist Daniele Damiano erinnert sich noch gut an das Konzert Ende März 1990, bei dem Abbado das Orchester überhaupt zum ersten Mal außerhalb von Berlin und Salzburg dirigierte. In den folgenden Jahren machten die Berliner auf ihren Tourneen durch Italien häufig in Ferrara Station. "Mit uns hat sich Abbado wieder an Italien angenähert, und das Land hat dadurch seine Liebe zur klassischen Musik neu entdeckt", sagt Damiano. "Die Atmosphäre in Ferrara hat für mich immer etwas Magisches gehabt. Die Musik verbindet sich dort mit der Schönheit der Architektur und Kunst ."
In den Gassen der Altstadt rund um das Theater, das sich gegenüber dem festungsähnlichen Castello Estense hinter einer schlichten Fassade verbirgt, begegneten die Philharmoniker ihrem Publikum bereits vor den Konzerten. "Für mich war es etwas Besonderes, mit dem gesamten Orchester in die Heimat des Chefdirigenten zu reisen", sagt Wolfram Christ, bis 2000 Erster Solo-Bratschist der Berliner. "Claudio Abbado nahm uns mit, um uns sein Zuhause zu zeigen. So etwas hatte es vorher bei den Philharmonikern nie gegeben. Das Publikum war begeisterungsfähig und zugleich aufmerksam, selbst bei Stücken von Anton Webern, die nicht so leicht zugänglich sind. "
Christ, der später auch mit Abbados Orchestra Mozart, dem Mahler Chamber Orchester und dem Lucerne Festival Orchestra im Teatro Comunale auftrat, lobt die echoarme Akustik, die auch feinste Klangschattierungen der Streicher und der Bläser ideal zur Geltung bringe. In der intimen Atmosphäre des Theaters mit nicht einmal 1000 Plätzen rücken die Zuschauer nahe an das Orchester heran. "Die Logen reichen bis zur Bühne, teils sitzt das Publikum direkt hinter den Geigen und Kontrabässen. Für einen Musiker ist es ein besonderes Gefühl, so umfangen zu werden." Eindrucksvolle Momentaufnahmen des Fotografen Marco Caselli Nirmal, der Abbado bei Proben und Auftritten im Teatro Comunale beobachtete, finden sich in dem Bildband '"Il teatro per immagini" (erschienen im Verlag Compositori, Bologna).
Durch die Gründung der Konzertagentur Ferrara Musica 1989 schaffte Abbado eine Plattform für seine jungen Orchester und stieß - ähnlich wie in seinen Berliner Themenzyklen – auch interdisziplinäre Projekte an. Zur Eröffnung einer Ausstellung über den Bildhauer und Maler Max Klinger im Palazzo dei Diamanti führten die Berliner Philharmoniker mit ihm im Mai 1996 Werke von Brahms, darunter das "Schicksalslied" auf. "Ich habe mich bei der Gelegenheit ganz besonders auf die Welt eingelassen, die Brahms und Klinger durch Hölderlin vereinte", schildert Abbado in dem Buch "Musik über Berlin".
Sein Eintreten für Musik als gesellschaftliches Gemeingut, das so essenziell sei wie Wasser, hat Abbado in den gegenwärtigen Krisenzeiten in Italien zu einer moralischen Instanz und Integrationsfigur gemacht. Um insbesondere ein junges Publikum für Musik und Kultur zu begeistern, öffnete er auch in Ferrara stets seine Generalproben. Mehr als 4000 Jugendliche konnten in jenen Jahren seine Arbeit mit Orchestern aus unmittelbarer Nähe erleben. Sein Kinderbuch "La casa dei suoni" (deutsch: Meine Welt der Musik, erschienen bei Knesebeck), in dem er seine ersten Erfahrungen mit Musik schildert, wurde an alle Schulen der Stadt verteilt. Von den jungen Musikern, die Claudio Abbado zeit seines Lebens geprägt hat, wird es nun entscheidend abhängen, dass sein Erbe auch für kommende Generationen erhalten bleibt.
Corina Kolbe