Geschichtsschreibung: Zu den Quellen sollt ihr gehen
"Gefangene der Zeit": Der Historiker Christopher Clark zeigt sich auch in der kleinen Form als detailbesessener Virtuose.
An Zahl und Umfang der Buchveröffentlichungen gemessen, bewegt sich das Interesse an Geschichte seit Jahren auf hohem Niveau. Auch Christopher Clark hat mit zwei voluminösen Bestsellern daran teil. Seine Bücher über „Preußen“ (2007) sowie über den Ersten Weltkrieg unter dem suggestiven Titel „Die Schlafwandler“ (2013) machten den im englischen Cambridge lehrenden Australier zu einem Herzensautor des bürgerlichen Lesepublikums.
Beide Bücher zogen aber auch Kritik auf sich. Vor allem „Die Schlafwandler“ wurden, etwa von Heinrich August Winkler, als Versuch eines Geschichtsrevisionismus und Reinwaschung der deutschen Schuld am Weltkrieg verurteilt.
Clarks Popularität hat das keinen Abbruch getan. Welchem Historiker bereitet sein Verlag schon eine Buchausgabe von verstreuten Aufsätzen, die nicht einmal einem Zentralthema folgen? So verhält es sich mit dem Band „Gefangene der Zeit“, dessen Untertitel „Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump“ denn doch ein wenig zu spekulativ ausfällt.
[Christopher Clark: Gefangene der Zeit. Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. DVA, München 2020. 336 S., 26 €.]
Von Dominic Cummings zu Bismarck
Denn zum Universalhistoriker ist Clark nicht geworden, auch wenn er die alttestamentarische Erzählung zum babylonischen König aufgreift. Wenn er sich Ausflüge in die Gegenwart erlaubt, wie bei einem Aufsatz über den gerade dem inneren Kreis der Macht entschwundenen englischen Politikberater Dominic Cummings, dann nur, um auf Bismarck zu sprechen zu kommen.
In bester angelsächsischer Tradition ist Clark ein Geschichtsskeptiker. Er glaubt nicht, dass Geschichte handlungsleitend für die Gegenwart sein kann. Er weiß, dass sich der Blick auf die Vergangenheit immer wieder neu ausrichtet, in der Perspektive wie im Urteil. Die überwältigende Detailkenntnis, die seine beiden magistralen Bücher auszeichnet, breitet er auch im kleineren Format gewinnbringend aus, dem Leser immer ein eigenes Urteil gestattend, wie in dem Eröffnungsaufsatz über die Erscheinungsformen und den Wandel von Macht oder dem brillanten Essay „Welche Bedeutung hat eine Schlacht?“.
Die meisten Aufsätze sind Rezensionen aus der „London Review of Books“ oder Würdigungen von Kollegen. Dadurch kommt eine Uneinheitlichkeit in Stil und Aussage zustande, die am Ende doch eine gewisse Beliebigkeit hinterlässt. Allzu freundlich-feierlich wirkt, wie er über John C.G. Röhl, den Biografen Kaiser Wilhelms II., schreibt, der übrigens zu den schärfsten Kritikern von Clarks Sicht auf die Entstehung des Ersten Weltkriegs zählt.
Der deutsche Leser erfährt nichts Neues, wenn Clark seitenlang die Hitler-Biografien von Peter Longerich und Brendan Simms referiert. Und was sollen die länglichen Erwägungen zur Hitler-Lektüre des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgård? Clarks Buch, das keinen erkennbaren Herausgeber hat, hätte deutlicher auf seine deutsche Leserschaft hin ausgewählt werden müssen.
Marginalien und Hauptsachen
Immerhin ist eine Menge dabei, das mit Gewinn zu lesen ist, auch wenn es auf den ersten Blick Marginalien der Geschichte behandelt, wie die Aufsätze über „Fanatismus, Liberalismus und Öffentlichkeit im Königsberg der 1830er Jahre“ oder „Leben und Tod des Generalobersten Blaskowitz“. Da werden historische Wirkkräfte sichtbar, eben weil Clark sie in einem Skandalprozess um religiöse Eiferer im einen, in der abgebrochenen Karriere eines Militärs im NS-Staat im anderen Fall herausarbeitet. Jedes Mal beeindruckt ein Quellenstudium, das belegt, dass historische Erkenntnis nur über die sorgfältige Betrachtung konkreter Vorgänge in all ihrer Vielschichtigkeit zu erlangen ist.
Damit ist Clark bei seinem Thema, bei Kaiserreich und Erstem Weltkrieg. Auf 15 Druckseiten läuft er zur Höchstform auf, wenn er mit blitzendem Florett Kritiker angeht, die sich am Titel seines „Schlafwandler“-Buches gerieben, aber seine These von der „Begrenztheit des Blicks“ der Akteure nicht verstanden haben. Nebenbei zeigt er, was Literaturkenntnis heißt und zitiert souverän Veröffentlichungen, die seine Kritiker wohl nicht zur Kenntnis genommen haben.
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Die in Deutschland zum Glaubenssatz erhobene Behauptung von der Alleinschuld des Kaiserreichs am Weltkrieg erledigt Clark unaufgeregt: „Fischers These, wonach die Deutschen den Krieg im Voraus geplant hätten und deshalb eine einzigartige Verantwortung für den Kriegsausbruch trügen, hat einen Großteil ihrer Glaubwürdigkeit verloren.“
Aber auch ein Großmeister der Zunft hat einmal klein angefangen. Köstlich, was Clark über seine Versuche erzählt, in den achtziger Jahren an Berlins Freier Universität zu promovieren: „Kein einziger der ordentlichen Professoren an der Fakultät schien daran interessiert, mich zu betreuen oder auch nur mich kennenzulernen.“ Promoviert hat Clark dann in Cambridge – natürlich über ein preußisches Thema.
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