Oper: Zirkeltraining auf dem Autofriedhof
Todesschrei vom Band: Zur Premiere der Staatsopern-Festtage hat Regisseurin Andrea Breth die Idee, ausgerechnet „Lulu“ auf einem Schrottplatz als Installation mit lauter Untoten in Szene zu setzen, die in dämlichen Choreografien dämlich aneinander vorbeigestikulieren.
Nun hatte man es sich gerade gemütlich gemacht mit Alban Bergs „Lulu“, der letzten aller letzten romantischen Opern, die so vielsagend Fragment blieb, als der Komponist 1935 über der Instrumentierung des dritten Aktes starb. Man war mit ihrem zweiaktigen Torso ohnehin zufrieden, hatte sich an Friedrich Cerhas lederne Vervollständigung des dritten Aktes gewöhnt (Uraufführung 1979 in Paris, ein Weltereignis) und liebte die Lulu-Suite, die der Dirigent Erich Kleiber noch Ende 1934 unter dem Protestgeheul der Nazis in Berlin aus der Taufe hob. Abgesehen davon, dass die zweiaktige Fassung immer ein bisschen kurz ist und die dreiaktige – vor allem im Paris-Bild – immer ein bisschen öde, schien kein Handlungsbedarf zu bestehen.
Als erster sah dies der Dirigent Eberhard Kloke anders. Er raffte 2010 den dritten Akt für Stefan Herheims Kopenhagener Inszenierung und erlöste ihn aus seiner symphonischen Doppelrahmstufe, indem er luftiger instrumentierte und die Sänger öfter bloß deklamieren ließ. Auf ihn folgt jetzt David Robert Coleman an der Berliner Staatsoper, und seine Stoßrichtung dürfte die gleiche sein. Allerdings wetzt Coleman entschiedener die Messer: Das Paris-Bild entfällt ganz, der Prolog des Tierbändigers („Hereinspaziert ...“) aus Gründen der Proportion und Symmetrie auch, so dass man am Ende, kleinere Binnenkürzungen inklusive, bei einer praktikablen Spieldauer von zweieinhalb Stunden landet.
Coleman ist fest an der Staatsoper engagiert, den Auftrag zu einer neuen Bearbeitung der „Lulu“ erhielt er im Herbst. Selbst für einen Berg-Spezialisten wie ihn kein üppiges Zeitbudget (wobei die Eliminierung des Paris-Bildes Bestandteil des Auftrags war, was die künstlerische Freiheit nicht eben erhöht). Und so kommt diese Berliner Fassung über ein sauberes kapellmeisterliches Zirkeltraining kaum hinaus. Seltsamerweise ist es gerade das exotische Instrumentarium im verbliebenen London-Bild des dritten Aktes (Banjo, Gitarre, Marimbaphon, Kuhglocken, Xylophon), das diesen Eindruck noch verstärkt. Das klingt eher nach Stilbruch als nach Gosse, mehr pflichtschuldig als urban-verrucht und trivialisiert nicht nur das Geschehen, sondern auch die eigenen Gefühle. Wenn Jack the Ripper alias Dr. Schön die arme Lulu schließlich mit Benzin übergießt und ein Feuerzeug zückt, muss man sich richtiggehend hochrappeln, um dieses Ende mitzuerleben. Weil „Lulu“ eben doch keine romantische Oper ist? Weil der Expressionismus es nie anders wollte?
Das Idiomatische, strikt Formenverliebte dieser Partitur aber ist auch Daniel Barenboims Sache nicht. In den Streichern seiner Staatskapelle möchte man wohl gerne versinken, ertrinken, so feinnervig und süffig zugleich modellieren sie die legendären Zwischenspiele: Ein Grave, als wär’s vom jungen Gustav Mahler, Variationen wie aus der Feder des späten Richard Strauss. Nur Berg selbst kommt nicht recht zum Vorschein, weil Barenboim viel lieber in Klang denkt als in Nummern und über alles rhetorisch Gemeißelte prinzipiell hinwegdirigiert. Selbst ein so herzergreifendes Rondo wie Alwas „Seele, die sich im Jenseits den Schlaf aus den Augen reibt“ verpufft, und nicht anders ergeht es dem Melodram des alten Schigolch im zweiten Akt („Hü, kleine Lulu“). Der Rest ist dafür gerne etwas laut.
Das musikalisch Unkonturierte mag auch an Sängern wie Thomas Piffka (Alwa), Jürgen Linn (Schigolch) oder Stephan Rügamer (Maler/Schwarzer) liegen, die vor ihren Partien einfach noch zu viel Respekt haben. Welche Lust Zwölftonmusik machen kann, zeigen der großartige, innerlich brennende Michael Volle als Dr. Schön, Georg Nigl als stecknadelpräzise artikulierender Athlet und Deborah Polaskis Gräfin Geschwitz, bei der es im Grunde genügt, wenn sie mit weißer Ganzkopfbandage an der Rampe thront – bereit, für Lulu, der auch sie verfallen ist, ins Gefängnis zu gehen.
Lulu ist Mojca Erdmann: ein Püppchen, keine Megäre; ein Unschuldsengel, kein männermordendes Ungeheuer. Eine Frau ohne Geschichte und Geschlecht, die perfekte Folie für das Begehren anderer, sehr jung und kalt und leer. Leider gilt das auch stimmlich, denn mehr als ein paar Kindertrompetentöne weiß Erdmann ihrem kreidefarbenem Sopran nicht zu entlocken. In der Emphase („Freiheit!“) bleibt sie blutleer, in der Höhe rasch bedrängt, im Ende („Nein, nein!“) unbeteiligt, und der Todesschrei kommt ohnehin vom Band. Wahrscheinlich wollte Andrea Breth, die Regisseurin, das alles nicht anders. Künstlerinnen wie sie – das hat ihr bravouröser „Wozzeck“ 2011 gezeigt – leben vom „Beziehungszauber“ zwischen den Menschen und Figuren. Wie Breth nun auf die Idee verfallen konnte, ausgerechnet „Lulu“ im aschgrauen Ambiente eines Autofriedhofs (Bühne Erich Wonder) als eine Art Installation mit lauter Untoten in Szene zu setzen, die in dämlichen Choreografien dämlich aneinander vorbeigestikulieren – das bleibt das große Rätsel und Ärgernis der diesjährigen Festtagepremiere. Jubel und Buhs.
Wieder am 4., 9., 11. und 14. April
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