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Stark. Kickboxer Ali (Matthias Schoenaerts) trampt in „De rouille et d’os“ von Jacques Audiard mit seinem Sohn an die Côte d'Azur.
© Festival

Cannes Filmfestival: Ziemlich beste Paare

Wes Anderson, Jacques Audiard, Fatih Akin: Erste Filme auf dem 65. Festival von Cannes – und erste Proteste.

Das Festival von Cannes hat kaum begonnen, da hagelt es Protest, und das gleich dreifach – weil Fatih Akins Beitrag „Der Müll im Garten Eden“ über den Protest türkischer Dorfbewohner gegen den Bau einer Mülldeponie nicht im Wettbewerb läuft. Kulturstaatsminister Neumann bezeichnete die „Programmierung als Sondervorführung“ als „unfreundlichen Akt der Festivalleitung“, schließlich sei Akin der „einzige eingeladene deutsche Regisseur“. Die Grünen forderten, den Film, der ein „eminent ökologisches Thema“ behandele, nachträglich in den Wettbewerb zu hieven. Ähnlich äußerte sich die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm: Dass der 22 Titel umfassende Wettbewerb ganz ohne Doku auskomme, sei „angesichts der weltweit wachsenden Bedeutung des Dokumentarfilmschaffens skandalös“.

Halt, Stopp. Alles frei erfunden. Nicht erfunden allerdings ist der in „Le Monde“ veröffentlichte Protest der Regisseurinnen Coline Serreau, Virginie Despentes und Fanny Cottençon, die Frauen zeigten in Cannes „nur ihren Busen, die Männer ihre Filme“. Und: Dass das Festival letztes Jahr vier Beiträge von Frauen im 20 Filme umfassenden Wettbewerb zeigte, sei offenbar bloß einem „Mangel an Wachsamkeit“ geschuldet. Nicht erfunden auch die Protestnote von rund 50 Regisseurinnen und internationaler Festivalmacherinnen an die Juroren, „die Hälfte der Talente dieser Welt“ werde ihnen in Cannes bewusst vorenthalten. Festivalchef Thierry Frémaux konterte, niemals werde er einen Film, „der es nicht verdient hat“, nur deshalb in den Wettbewerb einladen, weil er von einer Frau gedreht worden sei. Das führe nur zu „Quotenpolitik“.

Sehen Sie hier, wer schon über den roten Teppich lief:

Da hat er recht – und man darf hinzufügen: Das wäre das Ende des Festivals. Man mag das Phänomen einer reinen Männerriege im Wettbewerb von Cannes beklagen, schließlich sucht noch Ursachen, wer etwas bedauert. Wer aber protestiert, hat schon die Antwort. Und womöglich Maßnahmen parat. Wie viele Regisseurinnen sollen es denn sein? Prozentual so viele, wie es weltweit proportional im Regiefach gibt? Oder deutlich mehr, um die kreativen Durchsetzungshindernisse an prominenter Stelle zu beheben? Und: Welche Filme müssten dann nur deshalb weichen, weil sie von Männern gemacht sind?

Liebesgeschichten der besonderen Art: Werden sie zum Leitmotiv?

Schrille Töne zum Start. Nun ist zu hoffen, dass Qualität zählt. Und dass die – übrigens aus vier Frauen und vier Männern zusammengesetzte – Jury sich damit beschäftigt, wovon die Filme handeln und wie sie von ihrem Gegenstand erzählen. Schon Yousry Nasrallahs „After the Battle“ wirkt wie ein subtiler Kommentar auf die aktuelle Kontroverse. In dem Beitrag des 59-jährigen Ägypters, dem ersten Spielfilm über die Revolution, steht eine Frau im Mittelpunkt. Genauer, eine Revolutionärin: Reem (Mena Shalaby), jung, modern, in der Werbung tätig, in Kairo wohnend und in Scheidung lebend, mobilisiert vergleichsweise rückständige Dorfbewohner, die hinter der um das Pyramiden-Areal gezogenen Mauer leben. Erst hat sie Mitleid mit Mahmoud (Bassem Samra), einem der vom Mubarak-Geheimdienst gelenkten – oder auch nur irregeleiteten – Reiter, die im Februar 2011 eine Demo auf dem Tahrir-Platz gesprengt haben. Dann verliebt sie sich in ihn. Und schließt Freundschaft mit seiner Familie.

Mitleid? Liebe? Freundschaft? Das mag ein bisschen viel auf einmal erscheinen, zumal Mahmouds Frau Fatma (Nahed El Sebai) zeitweise ihren Mann großzügig zu teilen bereit ist. Vom revolutionären Überschwang aber wird auch der Film schlicht mitgerissen. Auf Youtube ist dokumentiert, wie Mahmoud auf dem Tahrir-Platz überwältigt und verprügelt wird, und weil der Clip im TV läuft, wird der arbeitslose Mahmoud auch im Dorf zum Geächteten. Doch Mahmoud hat eine gute Seele, und so mündet „After the Battle“, der erst kräftig mit der Romanze und dann mit dem Thriller liebäugelt, ins Propagandastück für die gute Sache. Mahmoud wird nicht zum Hitman eines Clanchefs, Fatma entdeckt den Zauber urbaner Freiheit. Und die Revolution siegt – einstweilen.

Liebesgeschichten der besonderen Art: Werden sie zum Leitmotiv dieses Festivals? Bereits „Moonrise Kingdom“, Wes Andersons zarter Eröffnungsfilm, setzt hierfür eine prägnante Note. In entschiedener Liebe vereint sind zwei Zwölfjährige, die 1965 auf einem Inselchen vor der amerikanischen Ostküste einigen Aufruhr verursachen: Nachdem sie sich ein Jahr lang Briefchen geschrieben haben, beschließen sie auszureißen. Sam (Jared Gilman) ist von seinen öden Pflegeeltern in ein Pfadfinder-Camp gesteckt worden, und Suzy (Kara Hayward) hält es bei ihren indifferenten Eltern (Frances McDormand und Bill Murray) nicht mehr aus. Die eigenbrötlerischen Kinder verbringen einen kurzen Sommer der Liebe, bevor die Macht des Erwachsenen sie trennt – nun ja, fast.

Sensible Naturen gehen lieber auf Distanz

Wes Anderson, der auch mit Anfang 40 kindlich-gründlich in die Welt blickt und mit höchst verspielten Filmen („Die Royal Tenenbaums“, „Die Tiefseetaucher“) berühmt geworden ist, entwirft auch in „Moonrise Kingdom“ detailverliebt ein Universum, in dem sich Kinder jeden Alters zu Hause fühlen mögen. Die erwachsenen Schauspieler brillieren auch in kleinsten Rollen – etwa Bruce Willis als Dorfsheriff und Papa ex machina, der den fast ins Heim gesteckten Sam bei sich aufnimmt. Die böse Hexe dieses in Kodacolor-Nostalgie schwelgenden Märchens hat als einzige des umfangreichen Personals keinen Eigennamen, sondern heißt nur „Jugendamt“. Und weil Tilda Swinton köstlich damit leben kann und Wes Anderson ohnehin alle Welt milde stimmt, wollen auch wir diese Reduktion ausnahmsweise nicht frauenfeindlich finden.

Leider plärrt Wes Andersons so fein gebastelte Spieluhr am Ende etwas laut, und auch Jacques Audiards „De rouille et d’os“ (Von Rost und Knochen) schadet das plakative Finale. Dabei hebt das Drama, lose entwickelt aus Story-Elementen des Kanadiers Craig Davidson, großartig behutsam an. Der Kickboxer Ali (Matthias Schoenaerts) trampt mit seinem fünfjährigen Sohn, den er kaum kennt, an die Côte d’Azur, lebt bei seiner Schwester und jobbt als Disco-Türsteher. Bei der Arbeit lernt er flüchtig Stéphanie (Marion Cotillard) kennen, Orca-Trainerin im Entertainment-Park „Marineland“. Eines Tages kommt es zu einem schweren Unfall mit den Riesensäugern, und Stéphanie verliert beide Beine.

Wie schon in „Ein Prophet“, wofür er 2009 in Cannes den Großen Preis der Jury gewann, entwickelt Audiard seine Geschichte sehr körperlich und konkret, setzt souverän die Handkamera auch oft zu Großaufnahmen ein. Das Kraftpaket Ali und die aus dem Entsetzen vorsichtig ins Leben zurückfindende Stephanie bleiben ziemlich beste Freunde – sogar als sie anfangen, miteinander Sex zu haben: Ja, so cool sollte man es sagen, denn Ali, der mit vielen Frauen schläft, findet schlicht vernünftig, was Stéphanie braucht. Irgendwann arbeiten die beiden auch miteinander, Stéphanie organisiert die Kickboxkämpfe, zu denen Ali auf Schotterplätzen antritt. Erst als die sozial und emotional prekären Verhältnisse zu einer gewissen Verbindlichkeit drängen, stehen die großen Ausrufezeichen im Drehbuch. Sensible Naturen gehen da lieber auf Distanz.

Und Fatih Akin? Sorgfältig und stilistisch zurückhaltend, wenn man von gelegentlichen visuellen Liebeserklärungen an die Schwarzmeer-Heimat seiner Vorfahren absieht, begleitet er in seiner Langzeitdoku eine Szenerie lokalen Widerstands. Die Tee-Plantagen gehen kaputt, der „Müll im Garten Eden“ wächst, das letzte Wort aber ist nicht gesprochen. Akin selber übrigens hat sich schlicht über die Cannes-Einladung gefreut. In welche Reihe, war ihm egal.

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