Neil MacGregors "Geschichte der Welt in 100 Objekten": Zeitkapseln
Neil MacGregor, der Direktor des Britischen Museums in London, erklärt in seinem Buch "Die Geschichte der Welt in 100 Objekten" - lebendig und erfrischend hemdsärmelig.
Am Anfang war der Stein. Rau, schmucklos und doch höchst funktional. Das beweist der Kunsthistoriker Neil MacGregor recht hemdsärmelig, indem er mit dem Replikat eines rund 1,8 Millionen Jahre alten Artefakts aus Afrika sein Brathähnchen zerteilt.
Das bleibt die Methode, die der Direktor des Britischen Museums in seinem Buch „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ anwendet: vom Kleinen zum Großen. So belässt er es dann auch im Fall des urzeitlichen Schneidewerkzeugs nicht bei der Anwendung, sondern macht sich beim Tranchieren Gedanken über den Zusammenhang zwischen Verzehr von nahrhaftem Knochenmark und dem daraus resultierenden Gehirnwachstum. Und plötzlich handelt es sich bei dem im heutigen Tansania entdeckten Stück geschliffenen Gerölls nicht mehr nur um ein sehr altes Taschenmesser, sondern um den Grundstein in der Entwicklung der Menschheit.
Zwei Millionen Jahre Historie in 100 Objekten? Das klingt sportlich und natürlich wirft eine solch kleine Auswahl Fragen auf: Was ist mit der Pille und dem PC? Warum wird die Guillotine nicht erwähnt – oder das Rad? MacGregor geht es jedoch nicht um Objekte, die Geschichte gemacht haben, sondern um eine Geschichte der Welt anhand von Gegenständen.
Jedes Kapitel ist eine Momentaufnahme, „eine Zeitkapsel“, wie MacGregor schreibt, die chronologisch ein geschlossenes Bild ergeben. Mit Hilfe von Scherben aus Afrika, schottischen Spielfiguren und Statuen aus Südamerika erzählt der Autor, wie der Ackerbau die Entstehung von Städten förderte, dann die Schrift das Staatswesen, schließlich der Handel das Geld. Er berichtet von römischen Trinkgefäßen, die über sexuelle Normen informieren und wie die Kreditkarte Religion und Bankwesen vereint. Manche Objekte lassen ganze Gesellschaften auferstehen, wie die Statue von Ramses II, aus deren Materialien MacGregor nicht nur Handelsrouten und Infrastruktur ableitet, sondern aus ihrer Platzierung in Tempeln auch Aussagen trifft über soziale Ordnung, Politik und Architektur des Jahres 1250 vor Christus. Dass dabei trotz permanenten Fortschritts der Wissenschaften vieles Interpretation bleibt, verschweigt MacGregor keineswegs.
Deutlich klingt stets eine Absicht MacGregors durch: Immer, erklärt er einmal, „sind es die Sieger, welche die Geschichte schreiben“. Durch Objekte aber könnten auch die sprechen, „deren Gesellschaften erobert und zerstört werden“. Geschichtsschreibung, die sich an Artefakten orientiere, sei „gerechter und ausgewogener“. Darüber hinaus könnte die Welt eine friedlichere sein, wenn die über Jahrtausende bestehenden Konstanten menschlicher Kultur deutlicher im Bewusstsein aller verankert wären.
Das mag man naiv finden, zumal MacGregor selbst einen Stuhl aus Waffenschrott zu einem charakteristischen Symbol für unsere Gegenwart erklärt. Doch gibt es zu denken, dass, wie der Autor schreibt, die durchschnittliche Anzahl von Bekannten eines heutigen Großstädters erstaunlich genau der Einwohnerzahl eines Steinzeitdorfes entspricht und sich ein direkter Bogen von der Statue eines Maisgottes der Maya zur aktuellen Debatte über Biokraftstoffe schlagen lässt. Was die Kulturen eint, erscheint hier größer als das, was sie trennt.
Gebremst wird die Freude an dieser Entdeckungsreise nur ein wenig durch den Autor selbst. Seine Schilderung der Weltgeschichte ist lebendig und erfrischend untheoretisch. Allerdings sind die einzelnen Objekttexte, vermutlich weil sie auf einer Radioserie für die BBC basieren, auch voller Wiederholungen. Der Ärger darüber wiegt allerdings nicht sehr schwer angesichts der hier dargebotenen Fülle an Denkanstößen.
— Neil MacGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten. C. H. Beck, München 2011. 816 Seiten, 39,95 Euro.
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