Comictheorie: Zeit zum Verstehen
"Rinnstein" heißt der weiße Balken zwischen zwei Panels. Was dort passiert, bestimmen nicht nur Zeichner und Autor.
In ihm vergehen Millionen Jahre. Er überbrückt auch die größten Entfernungen in nur einem Augenblick. Er – das ist einfach nur ein weißer Balken, auch „Rinnstein“ genannt. Der Rinnstein trennt die einzelnen Bilder (Panels) eines Comics – und er ist dafür verantwortlich, dass es etwas völlig anderes ist, ob jemand einen Comic liest oder ein Buch oder einen Film guckt.
70 Filme kommen in diesem Jahr in die Kinos, oder werden zumindest vorbereitet, die auf einem Comic basieren. Das ergab eine Zählung des Fachblattes „Total Film“. Wer Comic und Film vergleicht, wird feststellen, dass der Comic Zeit völlig anders organisiert. Eben diese andere Darstellung von Zeit ist es, die den Comic als Medium von anderen abgrenzt.
Man nehme einen beliebigen Comic zur Hand. Autor und Zeichner führen den Leser über die Anordnung der Bilder durch die Geschichte. Doch der Leser lässt sich nicht nur passiv führen, sondern wird selbst höchst aktiv. Denn zwischen den Bildern eines Comics, im Rinnstein, passiert eine ganze Menge.
Besonders anschaulich hat dies Scott McCloud in seinem Metacomic „Comics richtig lesen“ demonstriert. In einem Panel zeigt er einen Mann, der hinter einem anderen mit gehobener Axt auftaucht.
Ein Panel weiter zeigt ein langgezogenes „Eeyaa“ über der Skyline einer Stadt einen Schrei an. Was ist hier passiert? Nun, bestimmt ist das Ergebnis bei jedem dasselbe: Die Axt hat ihr blutiges Werk vollbracht. Doch der Weg dahin war höchst unterschiedlich. „Sicher, ich habe in diesem Beispiel eine erhobene Axt gezeichnet, aber ich habe den Hieb nicht ausgeführt oder entschieden, wie hart er war oder wer geschrien hat und warum. Das, liebe Leser, war ganz allein euer Verbrechen, und jeder von euch hat es auf seine Art begangen“, schreibt McCloud.
Das Prinzip, das dahinter steht, nennt er „Induktion“. Es beschreibt die Fähigkeit, das Ganze zu erkennen, obwohl wir nur Teile davon wahrnehmen. Kleinen Kindern etwa fehlt diese Fähigkeit. Sonst würde das Guck-guck-Spiel nicht funktionieren, bei dem eine Person sich hinter ihren Händen versteckt. Klar hat auch der Film Momente, in denen der Zuschauer ergänzen muss. Dann, wenn er nur Schatten sieht oder nur Laute hört, aber nichts sieht. Diese Momente werden jedoch als gelegentliche Effekte vom Regisseur eingesetzt. Im Comic sind sie elementarer Bestandteil der Geschichte.
Die Zeit verschwindet geradezu im Rinnstein. Die Übergänge müssen aber logisch nachvollziehbar sein. Oft bedarf es einer Erklärung, wohin die Zeit verschwindet, zum Beispiel über das graphische Element einer Uhr oder über eine schriftliche Erklärung (derweil etc.). Die eigene Erfahrung helfe dabei, diese Übergänge zu meistern, schreibt die Berlinerin Marianne Kriche in ihrem Buch „Erzählerische Vermittlung im Comic" am Beispiel des amerikanischen Zeitungscomics "Calvin and Hobbes". Darin geht sie Gemeinsamkeiten und Unterschieden der verschiedenen Medien nach. Wenn etwa jemand in einem Panel einen Baseball wirft, und im anderen zerstört dieser Ball eine Vase, dann lässt sich ungefähr einschätzen, wie viel Zeit vergangen ist. Calvin and Hobbes von Bill Watterson gilt als der erfolgreichste amerikanische Zeitungscomic überhaupt und ist auch hierzulande sehr beliebt. Zuletzt hat der Carlsen-Verlag im Dezember den "Zehn Jahre Jubelband" herausgebracht, eine Art "Best of" der Abenteuer des sechsjährigen Calvin und seines Stofftigers Hobbes.
Teilweise ähneln sich die Mittel des Films und des Comics. Zum Beispiel bei der Darstellung von Bewegung: Hier gibt es entweder die Möglichkeit, die Kamera starr zu lassen – somit wird das sich bewegende Objekt unscharf. Oder man kann die Kamera mitziehen und den Hintergrund unscharf werden lassen. Ähnliche Effekte erzielt auch der Comic durch Bewegungslinien. Doch sind sowohl Film als auch Comic eigentlich statische Medien. Sie zeigen keine Bewegung, sondern bedienen sich Tricks. Der Film schneidet 24 Bilder pro Sekunde aneinander. Der Zuschauer muss dem Tempo folgen. Beim Comic kann der Leser sein eigenes Tempo wählen. Oder, wie Andreas Platthaus in seinem Buch über die Geschichte der Comics festhält: „Die vierundzwanzigfache Wahrheit pro Sekunde, die Jean-Luc Godard dem Kino zugeschrieben hat, vermag der Comic zu potenzieren. Denn seine Leser haben beliebig Zeit, sich besagter Wahrheit zu stellen.“
Dabei kommt dem Comic eine weitere Besonderheit zu Gute. In einem einzelnen Panel passiert eine ganze Menge. Es ist nicht einfach nur eine Momentaufnahme wie ein Foto. Die Figuren unterhalten sich und gehen verschiedenen Tätigkeiten nach. Die gezeichneten Figuren, klar, bleiben unbeweglich. Gleichzeitig kann in einem Panel ein ganzer Dialog ablaufen – und Schall braucht Zeit. In der Literaturwissenschaft nennt man die Zeit, die man für das Lesen braucht, Erzählzeit. Die Zeit, die innerhalb der Geschichte vergeht, ist die erzählte Zeit. In Anlehnung daran spricht Comic-Legende Will Eisner ("The Spirit") von „gerahmter Zeit“ im Comic. Die Panelgrenzen legen ungefähr die Dauer der Handlung fest. Krichel nimmt das auf und schreibt: „Während der Rezipient die Dauer eines Sprungs in etwa zeitlich abschätzen kann, ist bei andauernden Bewegungslinien nicht zu erkennen, wo der Anfang und wo das Ende ist. In diesen Fällen besteht eine direkte Beziehung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit: Je länger der Rezipient das Bild anschaut, desto länger scheint der Kampf zu dauern.“ Diese Entsprechung sei in keinem anderen Medium zu finden.
Matthias Jekosch
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