Rockmusik von Frauen: Zeit für einen Saitenwechsel
Gitarrenpower, Wut und Humor: Die spannendste Rockmusik kommt derzeit von weiblich besetzten Bands wie Goat Girl, Dream Wife oder Thunderpussy. Ein Überblick.
Die Fans kreischen das ganze Konzert durch. Einige sind der Ohnmacht nahe, andere schauen wie in Trance zur Bühne. Sie sind so verrückt nach ihrer Lieblingsband, dass sie ihr sogar hinter dem Club auflauern. Eine Polizeikette kann die Massen nicht halten, als die vier Stars durch den Hintereingang verschwinden wollen – eine wilde Verfolgungsjagd beginnt.
Klingt wie aus dem Beatles-Film „A Hard Day’s Night“? Stimmt, ist aber das Video zum Song „The Man“ der Londoner Band Goat Girl, die sich die Szene kurzerhand bei den Fab Four ausgeliehen – und kurzerhand umgedreht – hat. Bestand die Fanhorde 1964 aus Frauen, drehen diesmal ausschließlich Männer durch. Der Grund sind vier Frauen, die angetrieben von Rumpelschlagzeug und munteren Schrammelgitarren immer wieder singen: „You’re the man, you’re the man/ You’re the man for me“. Am Ende noch ein kleines Gitarrensolo – fertig ist das Drei-Minuten- Rock-’n’-Roll-Glück.
Tritt in den Hintern des Rock'n'Roll
Goat Girl haben ein Händchen für solche knalligen, rohen Songs, die irgendwo zwischen Garage, Noise und Experiment oszillieren. Nachzuhören auf dem selbst betitelten Debütalbum der Gruppe, das gerade beim Edel-Indie Rough Trade erschienen ist. Vorab gab es bereits einen kleinen Hype um das Quartett, das gegen den Brexit und die Gentrifizierung Londons ansingt. Wobei Goat Girl nicht nur die kleine Szene rund um den Südlondoner Windmill Pub repräsentieren, der sie entstammen. Sie stehen überdies für eine derzeit immer deutlicher zutage tretende Entwicklung in der Rockmusik: Die spannendsten neuen Bands sind momentan weiblich besetzt – und es gibt erstaunlich viele davon. An der Kunstakademie von Brighton fand sich etwa das inzwischen in London ansässige Trio Dream Wife, das Anfang des Jahres ein starkes Debüt veröffentlichte.
Ebenfalls in der britischen Hauptstadt lärmen Skinny Girl Diet und aus Manchester melden sich die Pins. Auch Spanien hat mit den Hinds ein lautstarkes Quartett am Start, das gerade sein zweites Album „I Don’t Run“ veröffentlicht hat. Deutschland hält sich noch ein wenig zurück, immerhin gibt es Duos wie die Jolly Goods und Gurr.
Zwar erfinden sie alle den Rock ’n’ Roll nicht neu, doch geben sie ihm einen mächtigen Tritt in den Hintern. Und den kann er gut gebrauchen, steckt er doch seit etwa einem Jahrzehnt in einer tiefen Krise. Die Jugend hat sich von ihm ab- und dem Hip-Hop zugewandt. Gitarrenhersteller klagen über Absatzeinbrüche. Altstars wie die Rolling Stones, Bob Dylan, Neil Young, Pearl Jam oder die Guns ’n’ Roses füllen zwar weiterhin die Arenen, doch es kommt nichts mehr nach. Auch vom vorläufig letzten Rock-Revival – Anfang bis Mitte der nuller Jahre – ist erschreckend wenig geblieben. Die Mitglieder der Strokes sind derzeit mehr an Soloprojekten interessiert, die letzte halbwegs relevante Platte der New Yorker Band kam vor mehr als zehn Jahren heraus. Jack White, Kopf der White Stripes, irrlichtert auf seinem kürzlich erschienenen dritten Solowerk so ziellos durch die Gegend, dass man ihm am liebsten das Kabel aus dem Verstärker reißen würde. Und einst maßgebliche britische Gruppen wie Franz Ferdinand, Maxïmo Park, Bloc Party, Libertines oder Kaiser Chiefs sind allesamt nur noch Schatten ihrer selbst.
Franz Ferdinand und Co. sind nur noch ein Schatten ihrer selbst
So scheinen die jetzt hervortretenden Bands von einer Dynamik zu profitieren, die einst schon dazu beitrug, dass sich Angela Merkel nach der Spendenaffäre an der Spitze der CDU wiederfand: Liegt eine Institution am Boden, dürfen auch mal Frauen ran – es gibt ja nichts mehr zu verlieren. Andererseits zeigt sich schlichtweg die voranschreitende Emanzipation von Frauen in der Arbeitswelt. Immer häufiger sind sie in einstigen „Männerberufen“ anzutreffen.
Abgesehen von Karen O, Sängerin der Yeah Yeah Yeahs aus New York, war die letzte Hochzeit der Gitarrenmusik eine reine Männerangelegenheit. Seltsamerweise lösten aber die White Stripes, Libertines & Co. keine Bandgründungswelle bei ihren Geschlechtsgenossen aus. Dafür inspirieren sie nun einige der neuen, weiblich besetzten Gruppen. Deutlich ist etwa der Einfluss der Strokes auf dem zweiten Hinds-Album zu hören. Die Single „The Club“ klingt vom verzerrt-nöligen Gesang bis hin zur Leadgitarre wie eine Hommage an die Band um Julian Casablancas. Auch die in Island aufgewachsene Dream-Wife-Sängerin Rakel Mjöll ist Fan der Strokes, seit sie als Teenager deren Debütalbum „This Is It“ (2001) in Dauerschleife hörte. Es habe sie zu anderen Bands wie den Yeah Yeah Yeahs oder Franz Ferdinand geführt und in ihr den Wunsch geweckt, selbst Musik zu machen, erzählte sie kürzlich der „Irish Times“.
Dream Wife machen sich auf ihrem Debütalbum einen überzeugenden eigenen Reim auf diese Einflüsse. Vor allem das dynamische „Somebody“ bleibt im Ohr. Es handelt von einer typischen Backstage-Situation: Ein Mädchen schaut in der Umkleide eines Stars vorbei. „You had a smile across your face/ It was bound to happen/ What you wore and how you bore it so well/ What did you expect would happen?“ Ja, was hat sie erwartet? Sex sicherlich, aber keinen Sexismus. Und so wechselt die Sängerin im Refrain in die Ich-Perspektive. Die Gitarre setzt aus, nur Bass und Schlagzeug begleiten sie bei den überdeutlich artikulierten Worten „I am not my body/ I am somebody“.
Wut, Schmerz - und Rachefantasien
Vielleicht ist Rockmusik in MeToo-Zeiten deshalb bei jungen Frauen populär, weil sich verzerrte Gitarren und herausgeschriene Texte besser als jeder Elektropop-Track und jedes Folkstück dafür eignen, Wut, Schmerz und Rachefantasien zu kanalisieren. Feminismus mit drei Akkorden, Katharsis im Kreischmodus. Dream Wife demonstrieren das in „F.U.U.“, der punkigen letzten Nummer ihres Albums, in der es heißt: „I’m gonna fuck you up, gonna cut you up, gonna fuck you up“. Zum Ausklang feiert das Trio die „bad bad bad bitches“ und schickt damit eine Gruß zurück in die neunziger Jahre, als Kathleen Hanna dem „Rebel Girl“ huldigte. Hannas Gruppe Bikini Kill gehörte neben Bands wie Sleater-Kinney, L 7 und Courtney Loves Band Hole zur US-amerikanischen Riot-Grrl-Szene. Mit ruppigem Sound und zornigen Texten erkämpften sie einen Platz in der Rockwelt und knüpften ihrerseits an das Erbe von den Runaways und den Slits an.
Seither ist diese Traditionslinie zwar nie ganz abgerissen, mitunter jedoch bedenklich dünn geworden. Hoffnung kam ab Mitte der nuller Jahre aus Kalifornien in Gestalt der düster-postpunkigen Warpaint sowie des Schwesterntrios Haim, das mit Danielle Haim eine Ausnahmegitarristin in seinen Reihen hat und sich einem an Fleetwood Mac orientierten West-Coast-Sound verschreibt.
Beide Gruppen haben bereits mehrere Alben veröffentlicht und treten in großen Hallen auf. Es ist zu hoffen, dass sie dort bald von weiteren Kolleginnen Gesellschaft bekommen. Das musikalische Zeug dazu hätten einige. The Aces etwa: Das Quartett der Schwestern Cristal und Alisa Ramirez aus dem Collegestädtchen Provo, Utah, spielt schon seit Teenie-Tagen zusammen. Diese Woche haben die Asse ihr Debütalbum „When My Heart Felt Volcanic“ herausgebracht, bei dem jeder der 13 Songs ins Mainstream-Radio drängelt. Hochglanzpolierte Softrocknummern irgendwo zwischen den Killers und Haim. Schon der Eröffnungsgong „Volcanic Love“ kommt mit einer so unverschämt jubilierend Leadgitarren-Melodie daher, dass man automatisch grinsen muss.
Rockmusik geht auch ohne Typen
Einen ähnlichen Effekt haben Thunderpussy aus Seattle, die ganz auf klassischen Rock setzen. Gitarristin Whitney Petty ist mit Led Zeppelin, Aerosmith und Def Leppard aufgewachsen, was man ihren Riffs anhört. Sie spielt sie mit einer derartigen Hingabe und verfällt selbst bei den Soli nie in übermäßige Angeberei, dass man unweigerlich denkt: Yeah, klasse, lauter bitte! Das liegt auch an Sängerin Molly Sides, deren Power an Janis Joplin erinnert. Als Whitney Petty die ausgebildete Tänzerin zum ersten Mal als Backgroundsängerin bei einer anderen Band erlebte, wollte sie sofort mit ihr zusammenspielen. Zunächst wurden die beiden ein Paar, ein Jahr später starteten sie Thunderpussy.
Die vier Frauen eignen sich den „dick rock“ (Bassistin Leah Julius) auf eine ganz selbstverständliche Weise an, wobei ihnen das Kunststück gelingt, ihn gleichzeitig abzufeiern und ihm den Machismo zu entziehen. Thunderpussy nehmen die Sache zwar ernst, haben aber auch Humor, was man etwa an ihrem spielerischen Umgang mit typischen Rockstar-Bühnenposen sieht oder am Cover ihrer Debüt-EP „Greatest Tits“, das zwei gepiercte Zitronenhälften zeigt. Wunderbar auch das Video zum Song „Speed Queen“: Die Bandmitglieder und ein Dutzend weiterer Frauen in Lederjacken und Cowboyhüten treffen in einer Wüstenbar zusammen. Irgendwann gibt es Stress, eine Klopperei beginnt, während die titelgebende Motorrad-Königin (Molly Sides) mit der coolsten Braut (Whitney Petty) davonrast. Rock ’n’ Roll ganz ohne Typen – geht auch.
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