Kultur: Zaubern ist auch nur ein Trick
Büchners „Leonce und Lena“ als Musical: Robert Wilson und Herbert Grönemeyer stürmen das Berliner Ensemble
Wahnsinn! Was sich in der ersten Viertelstunde auf der im Grunde ja furchtbar engen Bühne am Schiffbauerdamm abspielt, drückt einen in den Sitz. Ein Senkrechtstart: Das Orchester im Graben rast mit Herbert Grönemeyers Ouvertüre los, wie von tausend Teufeln gehetzt. Und jetzt paradieren, mit ihren steilen Frisuren und fröhlichen Fratzen, sämtliche Figuren des Büchnerschen Luft- und Lustspiels an der Rampe, immer schneller, immer greller – man mag gar nicht daran denken, was aus ihm und der deutschen Dramatik geworden wäre, hätte nicht der Typhus den 24-Jährigen hinweggerafft.
Auftritt Leonce, nun schon in einem hohen, leeren, kalt ausgeleuchteten Himmelsraum: Der Prinz, halb amüsiert, halb anämisch, reflektiert mit schneidender Schärfe seinen Lebensekel und die Absurdität der Welt, die sich doch nur im Kreise dreht. Man spürt sofort: Markus Meyer ist eine glänzende Besetzung für Leonce. Ein verblüffender Absonderling, zwischen Hamlet und jungem Faust, Wilhelm Busch und Nobel-Punk. Auftritt Valerio: der nächste Coup.
Stefan Kurt übernimmt sofort das Kommando und gibt es nicht mehr her in den kommenden (reichlich) zwei Stunden, in denen man dann doch so manche Bruch- und Zwischenlandung erlebt. Mit seinem trunken-trockenen Witz (Goethes ganzer Auerbach-Keller ist eine Rentnernummer gegen diese wenigen genialen Zeilen Georg Büchners) reißt Valerio den Horizont auf, den Walter Schmidingers König Peter „vom Reiche Popo“ so zauberhaft vertrottelt eingrenzt. Schmidinger zelebriert mit der entwaffnenden Ironie einer Diva, die nicht mehr ganz sicher ist, ob sie noch gebraucht wird, ein großes, komisches Rührstück. Das fulminante Intro, drei tolle schauspielerische Entrees: So eine Bob-Show hat es lange nicht gegeben.
Es stimmt ja nicht, dass Schauspieler bei ihm zu Marionetten abgerichtet werden. Stefan Kurt (ein erprobter Bob-Athlet), Markus Meyer und Walter Schmidinger haben sich in Wilsons choreografisch-plastischem Theater vom ersten Moment an freigespielt. Sie nehmen das Publikum im BE im Sturm. Sie versprechen einen grandiosen Abend, wie ihn sich jeder Zuschauer, Theaterdirektor, Kritiker erträumt. Aber dann: platzt die Blase. Stockt der furiose Lauf. Wird „Leonce und Lena“ doch kein zweiter „Black Rider“.
Putzige Knattermimen
„Ich bin Regisseur, aber ich bin auf viele Menschen angewiesen. Ich kann die Dinge nur organisieren, sie in eine MegaStruktur einbauen“, sagte der Meister in einem BE-Werkstattgespräch. Nicht, dass in der Premiere allzu viel schief gegangen wäre. Doch schon die geringste Abweichung, das kleinste technische Problem hat bei Wilson-Inszenierungen große Folgen. Da muss sich noch manches einspielen bei „Leonce und Lena“; die Probenzeit war wieder mal mega-knapp. Dabei hat die Maske (Ulrike Heinemann) Großes geleistet. Ein laut tönender Stummfilm, wieder: Kostümbildner Jacques Reynaud steckt die Gestalten des alten, melancholischen Europa in putzige Lederanzüge; Knattermimen, elegant.
Das Seltsame ist, wie hier die Männerwelt und die Frauenwelt in der Märchenwelt auseinanderfallen. Und nicht zueinander kommen. Kein Platz für den Mikrokosmos in der Mega-Struktur. Nina Hoss hatte man sich als ideale Lena gedacht. Doch sie, die in der ja auch hoch stilisierten „Emilia Galotti“-Inszenierung eines Michael Thalheimer umwerfend präzis spielt, kämpft mit Wilsons Anti-Psychologie. Ihr liegt offenbar auch das Groteske nicht, die bizarre Rollenanlage, das Abstrakt-Tänzerische, das Wilson forciert: Und wer da keinen Zugang findet, wirkt in der Tat verloren und marionettenhaft. Selbst eine so robuste und zugleich zarte Schauspielerin wie Ursula Höpfner bleibt im Ungefähren: Die berühmte Szene mit der Liebesdienerin Rosetta und Leonce balanciert gleichsam auf einem flach gespannten Hochseil; von Erotik keine Spur. Das wird auch nicht besser, wenn Leonce und Lena einander betasten im knallbunten italienischen Arkadien.
Bei „Dantons Tod“ (Premiere 1998 in Salzburg, später am BE) war Edith Clever die Prostituierte Marion, Fritzi Haberlandt die Lucile. Beide Schauspielerinnen stellten sich brillant auf Wilson ein. Auch die Akteure vom Betty Nansen Theater Kopenhagen, wo Wilson zwei Jahre später den „Woyzeck“ inszenierte, waren ein homogenes Ensemble – und das Gastspiel am BE ein Triumph. Wilson wollte die Büchner-Trilogie. Und nur Claus Peymann konnte mit gewaltigem finanziellen Aufwand diese Vision erfüllen.
Ein lose verbundenes Triptychon. Drei Mal Büchner, drei Mal Wilson. Drei Mal anders: „Danton“ ein Totenfest, „Woyzeck“ ein höllischer Jahrmarkt – und „Leonce und Lena“? Georg Büchner hatte 1836, ein Jahr vor seinem Tod, „Leonce und Lena“ für einen Komödienwettbewerb eingesandt; zu spät, der Termin war überschritten. Das Stück kann man als als giftige Satire auf die deutsche Kleinstaaterei und -krämerei lesen, bis heute. Es dreht seine Pirouetten auf dünnstem Eis. Es ist, wie Valerio sagt, vielleicht „nichts als Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern“. Man weiß aus so manch anderer „Leonce und Lena“-Aufführung: Es fehlt da irgendwas. Es gibt da einen faszinierenden blinden Fleck ...
Knödelnde Könige
Robert Wilson und Herbert Grönemeyer füllen die ewige Lücke mit – Musical. Grönemeyer, einst Theatermusiker in Bochum und Köln, hat nicht nur eine vorantreibende Bühnenmusik geschrieben, sondern auch ein Dutzend Songs, mit eigenen Texten. Wie früher Tom Waits („Black Rider“, „Woyzeck“) und Lou Reed („POEtry“, „Time Rocker“). Grönemeyers Lyrik wiegt neben Büchner erdenschwer, bremst – und funktioniert am besten in der Parodie, wenn Schmidinger vor seinen trippelnden Hofschranzen gewienerte Couplets („Ich bin a König und ka Herz“) knödelt. Wenn Stefan Kurt, immer wieder der berstend komische Stefan Kurt, sich liebevoll-spöttisch in Grönemeyer-Pose wirft.
Wahnsinn! Das Premienpublikum raste (für Berliner Verhältnisse), und draußen, bei der Premierenfeier, musste Hausherr Peymann die Paparazzi vertreiben, die auf Grönemeyer anlegten. Wilson hat gezaubert. Riesenauflauf, wunderbar. Plötzlich war Büchner weg, und keiner hat´s gemerkt.
Wieder am 3. sowie vom 10. bis 12. und 14. bis 16. Mai .
Rüdiger Schaper
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