Humboldt-Forum: Wunderkammer und Labor
Zum Richtfest des Schlosses: Bernd Scherer, der Intendant des Hauses der Kulturen der Welt, über die Herausforderungen des Humboldt-Forums
Beim Humboldt-Forum müsse es darum gehen, forderte jüngst Kulturstaatsministerin Monika Grütters, „in der Tradition der Humboldtbrüder die Welt zu begreifen“. Das ist ein hoher Anspruch – lässt er sich überhaupt einlösen?
Der historische Ausgangspunkt für das Humboldt-Forum – darauf haben Horst Bredekamp und Hermann Parzinger hingewiesen – ist die Wunderkammer im früheren Schloss. Sie entwickelte sich im 16. und 17. Jahrhundert, zu einer Zeit also, in der die Bedeutung der Religion als Erklärungsmodell für die Welt schrittweise an Bedeutung verlor. Im Übergang vom Mittelalter zur Aufklärung trat an die Stelle von Bibel und scholastischen Texten die Auseinandersetzung mit der sinnlich erfahrbaren Welt. In der Wunderkammer wurde sie gesammelt, natürliche Objekte neben Artefakten, Exotika aus damals fernen Weltteilen neben Gegenständen des europäischen Alltags
Den Fürsten und Herrschenden dienten die wundersamen Objektsammlungen dazu, die Ordnung der materiellen Welt zu repräsentieren, deren Besitzer sie gleichzeitig waren. Bis weit ins 20. Jahrhundert nahmen sich dabei westliche Macht- und Wissenseliten unter dem Deckmantel eines universalen Zivilisationsprojekts das Recht, nicht nur den Rest der Welt zu erkunden, sondern auch in Besitz zu nehmen. Bei diesen Beutezügen gehörte strukturelle und physische Gewaltausübung zum Tagesgeschäft.
Das Museum gründet in den Wunderkammern des 16. Jahrhunderts
Für Wissenschaftler wie Kepler und Leibniz wurde die Wunderkammer gleichwohl zur Probebühne des Wissens. In ihnen konnten sie an den Objekten ihre Sinne schulen, Unterscheidungen einüben. Von Künstlern wiederum wurde sie genutzt, um ihre Malverfahren an den Objekten zu schulen. Aber es gab auch einen bedeutenden Konkurrenten für die wissenschaftliche und ästhetische Wissensproduktion: das Labor. Dort wurde nicht die wahrnehmbare Welt erforscht, sondern eine imaginierte Welt erzeugt, etwa mit Robert Boyles Experimenten zum Vakuum. Beide, die Wunderkammer und das Labor, sind entscheidend für das Verständnis der Herausforderungen von heute.
Aus der Wunderkammer entwickelt sich im 19. Jahrhundert das Museum. Gleichzeitig etablieren sich die einzelnen Wissenschaften, die die wahrnehmbare Welt klassifizieren, ordnen und damit disziplinieren. Die Objekte werden aus ihren Beziehungsgeflechten gelöst; derart gereinigt und hergerichtet, können sie ihren Platz auf der Bühne des Museums einnehmen. In der Begegnung mit dem Objekt schult der Betrachter seine Sinne.
Hier bildet sich bürgerliche Subjektivität, während in den Laboratorien des 19. und 20. Jahrhunderts eine neue Welt entsteht, mittels Elektrizität, Kunstdünger, dem Treibstoff Öl. Heute wird sichtbar, wohin diese Prozesse führen, die aus dem Labor kommen. Die von Menschen geschaffenen Realitätsentwürfe durchdringen in immer höherer Geschwindigkeit den Alltag weltweit, bis zur Transplantationsmedizin, der genetischen Manipulation und dem Internet der Dinge, eine von Algorithmen gesteuerte Produktions- und Konsumptionswelt. Menschliches Handeln ändert das Klima des Planeten, es erzeugt Dürre und Überschwemmungen, die auf Ackerbau und Stadtentwicklung zurückwirken. Klimawandel und Krieg um Rohstoffe lösen Flucht und Vertreibung aus. Aus einem stabilen ist ein hochdynamisches System geworden. In einer solchen Welt funktionieren die überlieferten Wissenssysteme nicht mehr.
Mehr als nur eine Sammlung
Was heißt das für das Museum? Lange inszenierte es sich als Paralleluniversum zu diesen Prozessen. In seinen Räumen galten feste Subjekt-Objekt-Beziehungen, bis in den 60er Jahren neue künstlerische Praxen Einzug hielten, mit dem Einsatz von Film, Medien und Performancekunst bis hin zur jüngsten Hinwendung zu Tieren und Pflanzen. Auch das Museum ist in Bewegung geraten.
Es folgte eine weitere Öffnung. Jahrhundertelang hatten die Museen Europas und Amerikas nicht westliche Gesellschaften im Sinne der Wunderkammer lediglich über Sammlungsprojekte repräsentiert. Koloniale Machtstrukturen wurden fortgeschrieben, waren doch die Gesellschaften des Südens Opfer der Ausbreitung westlicher Technologien. In dem Moment, in dem nicht europäische Künstler, Kuratoren, Kritiker und gesellschaftliche Akteure die Bühne des Museums betreten, werden ihre Perspektiven endlich wahrgenommen. Aus den „Gesammelten“ werden „Handelnde“. Mit den Documentas von Catherine David und Okwui Enwezor gelangen ihre Stimmen in die Weltöffentlichkeit. Heute ist die Einbeziehung von Künstlern, Denkern und Akteuren aus anderen Weltteilen längst nicht mehr nur moralisch geboten, sie ist überlebenswichtig geworden.
Das Erbe der Humboldt-Brüder
Die Herausforderung an das Humboldt-Forum besteht nun darin, diese Entwicklungen der Museen modellhaft zu einem Gesamtkonzept zu verdichten, das die hochdynamischen Prozesse der Welt heute begreift. Das ist das Erbe der Humboldtbrüder: Dass wir die alten Grenzziehungen zwischen nicht europäischer und europäischer Welt, Natur und Kultur, Kunst und Kultur überwinden.
In diesem Sinne sollten nicht nur die außereuropäischen Sammlungen Dahlems der Bezugspunkt für die großen Ausstellungen im Humboldt-Forum sein, sondern auch die europäischen Sammlungen wie die der Gemälde- oder der Nationalgalerie. Die Welt als Ganzes begreifen: Hier eröffnet sich die Chance, neue Kooperationen zwischen allen Institutionen des Preußischen Kulturbesitzes zu entwickeln.
Will man etwa die kulturellen Implikationen der ökonomischen Globalisierung verstehen, dann ist die alte kanonische Einteilung von Bildwelten nicht mehr tragfähig. Dann wird etwa deutlich, dass die barocke Bildproduktion lateinamerikanischer Kolonialzentren des 17. Jahrhunderts, deren Reichtum auf Silber und anderen Bodenschätzen beruhte, eng mit den globalen Bildstrategien der katholischen Kirche zusammenhängt – im Kontext der Gegenreformation in Europa. Ebenso setzen die heutigen Umschlagplätze von Kapital und Wirtschaft wie Hongkong, Dubai oder Singapur in großen Museumsprojekten auf die Macht der Bilder, die aus allen Teilen der Welt kommen, um ihre globale Bedeutung sichtbar zu machen.
Im Sinne Alexander von Humboldts müssen Natur und Kultur zusammengedacht und Perspektiven aus aller Welt einbezogen werden. Und im Sinne Wilhelm von Humboldts darf Kultur nicht als abgeschlossenes Produkt verstanden werden, sondern als Tätigkeit, als Prozess. So kann das Humboldt-Forum als Probebühne zum Verständnis der Welt entwickelt werden, so wie es Künstlern immer wieder gelingt, uns zum Staunen zu bringen. Ein Staunen, das die Grundstrukturen der Welt erfahrbar macht.
Klassische Kategorisierungen reichen im Museum nicht mehr
Wenn zum Beispiel der aus dem indigenen Stamm der Cherokee stammende Künstler Jimmie Durham sein „Museum of Stones“ zu Bildern faschistischer Architektur in Beziehung setzt, dann konfrontiert er zu Stein gewordene moderne Machtgesten mit den durch Wind und Naturkräfte über tausende Jahre geformten Steinen. Es geht nicht um die Fetischisierung schöner Steinformationen, auch nicht um die kulturelle Einordnung indigener Sammlungsformen, sondern um eine sinnliche Anregung, unser in Stein gemeißeltes Denken neu zu verorten. Klassische Kategorisierungen von Museumsgegenständen im Sinne geografischer oder kultureller Zuschreibungen helfen uns nicht weiter. Sie frieren die Gegenstände ein, statt sie zu dynamisieren.
Auf dieser Probebühne können Akteure verschiedenster Art erscheinen, die bewusst die bisherigen Grenzen überschreiten: kulturelle Objekte neben Objekten der Natur, technologische neben Objekten der Kunst, menschliche Akteure interagieren mit Tieren und Pflanzen. Klingt das zu abstrakt?
Man stelle sich eine Ausstellung zu den modernen Kriegen im Nahen Osten vor. Themen wären die Rolle der fossilen Energien, um die Krieg geführt wird, die ihn aber auch antreiben, der Kampf um kulturelle Symbole, der Schwarzmarkt für Kulturschätze, der Einsatz von Drohnen, die Bildpolitiken des Islamischen Staates, des Westens und Syriens – es ginge um die komplexen Beziehungsgeflechte unserer gemeinsamen Welt.
Der hohe kulturpolitische Anspruch an das Humboldt-Forum erfordert ein einheitliches Gesamtkonzept für die beteiligten Einrichtungen, die Humboldt-Universität, das Berlinkapitel und die ethnologischen Sammlungen. Es wäre falsch, die verschiedensten Ansätze zu vermischen: Aus der Idee der Wunderkammer kann schnell eine Wundertüte werden.
Die wesentliche Herausforderung aber liegt darin, im rekonstruierten barocken Schloss die Gegenwart einziehen zu lassen. In Dahlem schliefen die ethnologischen Sammlungen bis zum Beginn der Humboldt-Forums-Debatte einen Dornröschenschlaf. Ihre Aktualität artikuliert sich wesentlich auch über die Restitutionsforderungen ehemaliger europäischer Kolonien in Asien, Afrika und Lateinamerika. Es geht um mehr als Rechtsansprüche: Die Forderungen sind ein Indikator dafür, dass wir unsere Kolonialvergangenheit bis heute nicht aufgearbeitet haben.
Die Bundesrepublik gründet auf der Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch. Erst wenn wir uns ebenso kritisch mit der deutschen Kolonialgeschichte befassen, treten wir in Augenhöhe zu den anderen auf. Nicht nur deren Positionen, sondern auch unsere eigenen werden dann mitverhandelt. Das Humboldt-Forum hat nicht nur die Chance, das zu tun: Darin steckt auch eine Verpflichtung.
Der Autor ist Intendant des Hauses der Kulturen der Welt.
Bernd Scherer