Kultur: Wolken klingen vorüber
Trommelwirbel der Sinne: „Touch the Sound“ von Thomas Riedelsheimer
Eine Frau steht in New Yorks Grand Central Station und bringt mit ihrem Schlagzeug einen Zug ins Rollen. Ein zartes Trommeln und am Ende eine wilde, rasende Fahrt. Die Kamera umkreist die Schlagzeugerin: Evelyn Glennie wurde in den Achtzigerjahren die weltweit erste Solo-Perkussionistin für klassische Musik. Klassik? Glennie sagt, jeder Klang sei Musik. Wenn sie hinhört, ist die Welt eine Symphonie von Geräuschen.
Allein New York: Das Klopfen des Presslufthammers erhebt sich über dem Rumoren der Klimaanlagen, der Ruf der Sirenen übertönt das Piepsen der Mobiltelefone, und in der Rush Hour kontrapunktiert die Metro das Stop and Go der Autokolonne. „Touch the Sound“ heißt Thomas Riedelsheimers beim Leipziger Dokfilmfest ausgezeichnetes Porträt der schottischen Musikerin, denn sie sagt auch, jeder Klang sei eine Berührung.
Der Regisseur nimmt sie beim Wort und nähert sich mit seiner Kamera dem, wovon es kein Bild gibt. Das rattert, dröhnt, quietscht, säuselt, knirscht, raschelt, sirrt, brummt, Fahnen knattern, Trommeln wirbeln in der Nacht. Wer Augen hat, zu sehen, der höre. Auf ähnlich meditative Weise hatte der Dokumentarist in „Rivers and Tides“ bereits den Landart-Künstler Andy Goldsworthy bei seiner Arbeit beobachtet.
Von allen Sinnesorganen lassen sich die Ohren bekanntlich am wenigsten verschließen, schon gar nicht vor dem Rhythmus des Herzschlags und dem Refrain des eigenen Atems. Und wie ist es mit der Schwingung einer Brücke? Dem Beat der Straße? Dem Vibrieren der Gegenwart? Wie klingen die Farben? Kann man den Lauf der Zeit hören? An Glennies Seite komponiert Riedelsheimer den Zwiegesang zwischen Schritten und Kofferrollen auf gläsernem Fußboden: ein Flughafen-Duett. Oder er lauscht ihrem minutenlang nachbebenden Gongschlag und sieht dem Spiel der Schallwellen zu, bis sie allmählich verebben.
Ob Evelyn Glennie dem Sound der Großstadt nachhorcht, ob sie den Sturm an der schottischen Küste einfängt, einen Kneipentresen wie ein Keyboard bespielt, ihr Elternhaus auf Spuren der Kindheit hin abklopft oder mit Musikern in Japan, Manhattan und Europa improvisiert: Riedelsheimers Film schärft die Sinne wie eine Droge und versetzt sein Publikum in hellwache Trance. Was sich nicht nur der sensibel komponierten Tonspur, sondern vor allem Glennies faszinierender Persönlichkeit verdankt. Als Kind – man erfährt es nebenbei – ist sie fast ertaubt und bis heute zu 80 Prozent hörgeschädigt. Trotzdem hat unsereins im Vergleich zu ihr Tomaten auf den Ohren, hört sie doch mit Händen und Füßen und Haut und Haaren weit mehr. Glennie unterrichtet Percussion-Schüler auf der ganzen Welt, mit „Touch the Sound“ erteilt sie auch dem Kinogänger eine feinsinnige Lektion. Zum Beispiel darüber, dass die Stille der lauteste Krach ist.
In der leeren Fabrikhalle in Dormagen, trifft Glennie erstmals auf ihren Musikerkollegen Fred Frith, der schon den Soundtrack für „Rivers und Tides“ komponierte.“ Du klingst gut“, meint sie und verwandelt Frith mit zarten Schlägen auf Kopf und Rücken in ein Instrument. Ob Kakophonie der Großstadt oder Pianissimo eines Windhauchs: Nach „Touch the Sound“ klingt die Welt stundenlang anders. Am Ende glaubt man selbst das Ziehen der Wolken zu hören.
Broadway, fsk (OmU), Hackesche Höfe (OmU), Neue Kant Kinos (OmU)
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