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Erinnerungen an das wilde Leben. Patti Smith bei ihrem Konzert in Berlin.
© dpa

Patti Smith in Berlin: Wo die Toten erwachen

Eine Messe für Freunde: Die amerikanische Rocksängerin und Poetin Patti Smith erinnert bei ihrem Konzert in der Apostel-Paulus-Kirche eindrucksvoll an Menschen, die ihr nahe standen: Schauspieler, Musiker, Künstler.

Das erste Lied, das sie an diesem familiären Abend singt, „It’s a Dream“ von Neil Young, erzählt schon sehr viel von dem, was in den kommenden zweieinviertel Stunden in dem ausverkauften Gotteshaus der Backsteingotik kommt. Vom Aufwachen an einen schönen Morgen weiß der Song – und dass es besser ist, nicht in die Nachrichten zu schauen. Und dass der Traum langsam schwindet.

Ja, die verdammten Nachrichten. Patti Smith ist 67 Jahre alt, sie trägt ihr Haar grau und sehr lang und erst mal mit Strickmütze, was sie 67 Jahre jung aussehen lässt, wäre da nicht diese dunkle Brille, die sie aufsetzt, um aus ihren mitgebrachten Büchern zu lesen. Back to college. Frühe Literaturerlebnisse sind prägend, bei ihr waren es William S. Burroughs, die ganze Beat-Generation-Gang und Rimbaud, Kafka, Brecht. Die Nachrichten bringen nichts Gutes. Nur Tote. Nachher ist man dankbar für die schöne, warmherzige Neil-Young-Nummer, denn er lebt. Er gehört nicht – man kann es kaum aussprechen – zu den Dahingegangenen, denen die Poetin ihren „evening of words and music“ widmet.

In der ausverkauften Apostel-Paulus-Kirche zeigte sich die Zukunft des Rock ’n’ Roll. Sie besteht zum einen darin, das eigene Werk am Leben zu erhalten und würdig fortzuschreiben. Und zum anderen heißt es, Abschied zu nehmen; darin unterscheidet sich das Leben eines Rockstars wenig von dem der Fans. Und doch: Patti Smith mag nicht so schnell zur Tagesordnung übergehen. Sie erinnert an den 100. Geburtstag von Burroughs dieser Tage. Sie widmet dem jüngst verstorbenen Schauspieler Philip Seymour Hoffman einen Song und denkt an ihr Kinderidol Shirley Temple. Sie gedenkt Christoph Schlingensiefs, der im August 2010 gestorben ist und mit dem sie befreundet war; eine schöne Geste in Berlin. Das ist jetzt alles ein bisschen viel der traurigen Nachrichten – und dann auch noch Lou Reed.

In der „New York Times“ schrieb sie einen kurzen, bewegenden Nachruf. Ihre Hommage an Lou hier vor dem in lila Scheinwerferlicht getauchten Altar verrutscht gründlich. Schöne Idee, einen Song von Lou Reeds Album „Berlin“ zu spielen, mit ihrer kleinen kammermusikalischen Band; Tony Shanahan an Piano und Bass, ihr Sohn Jackson Smith an der Gitarre und im Hintergrund ein abwesend wirkender Schlagzeuger. „How Do You Think It Feels“ verrutscht dem Quartett erbärmlich, sie wirken schlampig, der Song wird nach drei Anläufen beiseitegelegt.

Ein Abend der gemischten Gefühle. Patti Smith sucht Kontakt zum Publikum. Bei „Dancing Barefoot“ kommt sie das erste Mal von der ohnehin flachen Bühne herunter, geht unter die Leute. Hier flackert auch zum ersten Mal ihr unheiliger Geist auf, ihre offensive Erotik, ihre Fähigkeit zu unbändiger Leidenschaft und Unterwerfung, das Potenzial von Freiheit, Ekstase und Zerstörung, das ihre Aura ausmacht. Inzwischen hat sie auch einen Enkelsohn, Frederick, dem widmet sie John Lennons „Beautiful Boy“. Sehr schön – und dann erinnert man sich, dass der Song von „Double Fantasy“ stammt, dem letzten Album, das John Lennon und Yoko Ono vor seiner Ermordung veröffentlichten, anno 1980.

Der Tod spielt hier überall sein Liedchen. Es liegt eine morbide Stimmung über dem Auftritt. Aber das hat Patti Smith zu Patti Smith gemacht: die abgerissene Eleganz, die Unbedingtheit, das geile Jugendmachtgefühl der Siebziger. Und nun geht sie auf die Siebzig und singt „Pissing in a River“ von „Radio Ethiopia“ (1976), ihrem zweiten Album. Geht immer noch, ist nicht peinlich.

Sie weiß wohl, was sie da macht, wenn sie nicht mit einer Rockband auftritt, sondern eher in Richtung unplugged. Und noch einmal die Brille aufgesetzt und aus „Just Kids“ gelesen, ihrem Buch über die Beziehung mit Robert Mapplethorpe, dem 1989 gestorbenen Fotografen. Es gab viele Tote in Patti Smiths Leben. Ihr Konzert ist eine Totenmesse, aber ist das Kirchenmusik nicht fast immer, Totenklage und Erweckung?

Und immer schon brach sich in ihrer Musik das Hymnische Bahn, und so geschieht es. Ein paar Sätze aus „Just Kids“, über die einsamen Transvestiten, die Lou Reed in „Walk on the Wild Side“ unsterblich gemacht hat – und dann „Because the Night“. Sie gehört den Liebenden, und gänzlich weggewischt wird der zähe Gedanke an die Endlichkeit der Lust und die Vergänglichkeit des Fleisches mit „Gloria“, nach langem Vorspiel. Das Publikum hat sich erhoben zum Mutterunser, ganz im Hier und Jetzt. Die Musiker spielen laut, befreit. Das Leben rockt ja doch, und die Toten wussten das am besten.

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