Architekturgeschichte: Wo der Mensch bleibt
Vittorio Lampugnanis monumentale Betrachtung der „Stadt im 20. Jahrhundert“: Auf 900 Seiten geht der Architekturhistoriker der Geschichte der Stadt nach.
Knapp ein Vierteljahrhundert liegt zwischen den ersten Skizzen und dem vollendeten Buch. Eine Geschichte der Stadt zu schreiben, und sei es begrenzt auf das 20. Jahrhundert, ist allemal ein gewaltiges Unterfangen. Und ein gewagtes: Denn leicht wird es fallen, Fehlstellen zu entdecken oder schwächere Kapitel, wenn man denn will. Vittorio Magnago Lampugnani, der 1950 in Rom geborene, in Stuttgart ausgebildete, in Berlin zum Theoretiker gereifte und nunmehr seit Jahren an der renommierten ETH Zürich lehrende Architekturhistoriker, ist Kontroversen nie aus dem Weg gegangen – ganz im Widerspruch zu seinem eher stillen und bedächtigen Wesen. Lampugnani, der zudem beim Berliner Schlosswettbewerb Vorsitzender der Jury war, macht seinen Standpunkt unmissverständlich deutlich, doch quasi im Vorbeigehen: Als „konservativen Revolutionär“ gibt er sich zu erkennen, der „den Anschauungen vergangener Epochen nur gerecht zu werden“ vermag, „wenn er mit den Vorurteilen der eigenen Zeit bricht“. Welchen Vorurteilen, das lässt sich aus dem nachfolgenden Diktum erahnen: „Zerstörung und Wiederherstellung der Tradition gehören zusammen.“
Eine Apotheose des 20. Jahrhunderts ist es also nicht, die Lampugnani auf den 900 Seiten der beiden reich bebilderten Bände seines Magnum Opus vornimmt. Übrigens auch des Magnum Opus des Verlegers Klaus Wagenbach, der sich das Wagnis dieser Publikation zum eigenen 80. Geburtstag geschenkt hat, als überhaupt umfangreichstes Buchwerk seines italophilen Hauses. Es handelt sich nicht um eine Geschichte des reinen Städtebaus und schon gar nicht der Architektur. Denn die Geschichte der Stadt hängt von zahllosen Faktoren ab, neben den gegebenen von Klima und Geografie von jenen der Gesellschaft, der Ökonomie, Politik, Religion, Kultur. Ist dieses Vorhaben gelungen? Kann es gelingen?
Die Antwort bleibt naturgemäß in der Schwebe. Denn bei den 28 Kapiteln, in die Lampugnani die Stadtgeschichte des jüngst vergangenen Jahrhunderts gliedert, nicht um Vollständigkeit zu erreichen, sondern um charakteristische Erscheinungsformen des Städtischen zu destillieren, müssen die Einzelergebnisse so unterschiedlich sein wie die untersuchten Strukturen, ausgeführt oder Papier geblieben, schulbildend oder isoliert. Doch eine Art Muster wird denn doch deutlich. Die „deutschen Utopien“ der Zeit um 1900 beispielsweise sieht der Autor aus der Literatur erwachsen, die Projekte der frühsowjetischen Avantgarde nehmen ihren Ausgang von der Oper „Sieg über die Sonne“ von 1913. Die Postmoderne der achtziger Jahre wurzelt in Robert Venturis provozierenden Betrachtungen über Las Vegas ein Jahrzehnt zuvor. Lampugnani hat ein sehr scharfes Auge für die geistigen Voraussetzungen, die im Städtebau physische Realität annehmen, oft genug aber gezeichnet oder nur gedacht bleiben. Die eingangs angekündigte Berücksichtigung materieller Vorbedingungen, vor allem politisch-ökonomischer Gegebenheiten, hält demgegenüber in seiner Darstellung nicht mit.
Beispiel Chandigarh: Dieses heute schon wieder fast in Vergessenheit geratene, in den fünfziger Jahren jedoch weithin gepriesene Vorhaben des Neubaus eines Verwaltungszentrums in Indien reduziert sich bei Lampugnani dann doch wieder auf eine detaillierte Geschichte der Machenschaften des damals im Zenit seines Ruhms stehenden Le Corbusier, der – wie stets – allen Ruhm der Urheberschaft auf seine Person zu lenken vermag. Lampugnanis Grundeinstellung blitzt in dem Satz auf, an Chandigarh werde deutlich, „dass die großen städtebaulichen Utopien der zwanziger und dreißiger Jahre zerschellt“ seien. In Brasilia, der nachfolgenden Stadtgründung, etwa nicht? Nun, da wirken „die wunderbare Landschaft und das herrliche Klima, die einer Stadt, die programmatisch eng mit der sie umgebenden Natur verflochten ist, besonders zugutekommen“.
Es nimmt gleichwohl für den Autor ein, solche Spuren eigenen Erlebens in seinen Urteilen gespiegelt zu finden. Gewiss, nicht alles hat Lampugnani mit eigenen Augen gesehen, sehen können, und längst nicht alle Städtetypen betrachtet er mit gleicher Sympathie. Was am Ende des Chandigarh-Kapitels steht, gilt für den Autor selbst: „Der Künstler findet darin keinen Platz; er kann nur abseits stehen, schauen und Metaphern des Schweigens träumen.“
Nicht nur an dieser Stelle ahnt der Leser, dass dem „konservativen Revolutionär“ eher die Sprache des Dichters Paul Valéry aus „Eupalinos oder der Architekt“ von 1923 nahesteht als die der Stadtsoziologie um 1970. Deren Folgen geißelt Lampugnani in aller Schärfe. So den Wohnkomplex Corviale in der nördlichen Peripherie Roms, eine gigantische Wohnscheibe, erbaut zwischen 1972 und 1981, den er als „Emblem gescheiterter Ambitionen“ verwirft. Dem alsbald am eigenen Entwurf zweifelnden Architekten dieser Megastruktur unterschiebt Lampugnani, was sein eigenes Ideal ausmacht: die Erkenntnis der „Fragmente jener traditionellen und menschenmaßstäblichen Stadt, von der er schon damals wusste, dass sie nie als Frucht seines technokratischen Keims hätte reifen können“.
Es geht also letztlich nicht um eine Geschichte der Stadt, jedenfalls nicht im Sinne einer chronologischen Abfolge – auch wenn die 28 Kapitel den Weg durchs Jahrhundert nehmen – und schon gar nicht im Sinne einer aufsteigenden Entwicklung. Das Ideal der europäischen Stadt steht fest, unausgesprochen, aber stets präsent. Gegen alle großen und meist nur großspurigen Utopien anzuschreiben, die doch dieses 20. Jahrhundert geprägt haben, hat durchaus subversiven Reiz. Es sind die Einzelgänger und Widerständigen, denen Lampugnanis Sympathie gilt, etwa Joze Plecnik, dem abtrünnigen Schüler des Wiener Systematikers Otto Wagner und Gestalter der so ganz eigenwilligen Kulisse Ljubljanas. Oder Giovanni Muzio, der 1922 in Mailand mit dem vom Volksmund verlachten „Hässlichen Haus“ eine Zwischenposition besetzte: „Es war auf beunruhigende Art alt und neu zugleich, klassisch und modern, konservativ und revolutionär.“ Wieder eine versteckte Selbstcharakterisierung? Oder dem Franzosen Auguste Perret, der nach dem Zweiten Weltkrieg Le Havre einheitlich wiederaufbaute, und dessen Schüler und Nachfolger, dem kaum mehr bekannten Fernand Pouillon. Der errichtet im Algerien der fünfziger Jahre Siedlungen, denen Lampugnani „geradezu phantasmagorische typologische Vielfalt“ bescheinigt, mit Fassaden, die „jedem Haus eine eigene, unverwechselbare Physiognomie verleihen“.
Vielfalt und Unverwechselbarkeit – zwei Schlüsselbegriffe für die „Wiederentdeckung der historischen Stadt“, die Lampugnani am Ende seines Rundgangs beschwört. Er ist davon überzeugt, „dass es eine Stadt des 20. Jahrhunderts gibt, die sich an der Vergangenheit orientiert, ohne sie zu kopieren, zu paraphrasieren oder zu negieren“. Wie viele Experimente an der Stadt ausprobiert wurden, zeigt Lampugnani in seinen 28 Kapiteln, und wie viele davon gescheitert sind. Kein Wunder, wo er doch nichts ausspart, weder Mussolini noch Stalin oder Hitler, alle drei selbsternannte Städtebauer, aber ebenso wenig die „autogerechte Stadt“ oder die Sozialsiedlungen am Stadtrand. Doch es ist ein großes intellektuelles Vergnügen, dem Autor in seiner bisweilen melancholischen, bisweilen fassungslosen Reise zu folgen, wissend, dass keine noch so umfassende Darstellung jemals vollständig sein könnte, und objektiv schon gar nicht.
Vittorio Magnago Lampugnani: Die Stadt im 20. Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes. Wagenbach Verlag, Berlin 2010, 2 Bände im Schuber, zus. 912 S., Subskr.-Preis 98 €, ab 1. Februar 124 €.
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